Die Stoffe, aus denen die Träume sind

15.2.2021, 20:19 Uhr
Die Stoffe, aus denen die Träume sind

© Foto: Rurik Schnackig

Nur 24 Quadratmeter sind es. Nicht besonders viel. Aber für Kerstin Goy-Yun ist es die Welt. Denn auf dieser Fläche ist die Ingenieurin für Bekleidungstechnik gelandet, nachdem sie den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt hat. Und von hier aus – Mitten in Zabo – hat sie jede Menge vor.

Gleich muss die Tochter wieder in die Videokonferenz der Grundschule, der Reporter hat noch ein paar Fragen und an Arbeit mangelt es auch nicht. Kerstin Goy-Yun aber ist die Ruhe selbst. Man merkt der 48-Jährigen an, dass sie mit Zeitdruck umzugehen weiß. Zusammen genommen 18 Jahre lang war sie erst beim einen und dann beim anderen großen Herzogenauracher Sportartikel-Hersteller beschäftigt. Gerade in der Anfangszeit, als es das Kind noch nicht gab, da waren Arbeitstage mit zehn Stunden und mehr der Normalfall. "Und es hat sich nicht schlecht angefühlt", sagt Kerstin Goy-Yun.

Dabei hat die gebürtige Frankfurterin eigentlich immer von der Selbstständigkeit geträumt. Schon als sie im Alter von sechs Jahren an der Nähmaschine der Großmutter saß und erstmals mit einem leichten Druck aufs Pedal das gleichmäßige Surren des Gerätes auslösen durfte, dachte sie daran, wie es wohl wäre, eine eigene Kollektion herauszugeben.

Konsequenterweise absolvierte sie nach der Schule eine Ausbildung zur Damenschneiderin, schloss das Studium zur Ingenieurin für Bekleidungstechnik an. Mit einer Kommilitonen plante sie damals die Selbstständigkeit. Allein die Frage nach dem "Wo", die von beiden unterschiedlich beantwortet wurde, ließ das Projekt seinerzeit scheitern. Kerstin Goy-Yun heuerte zunächst bei Adidas an, wechselte schließlich zu Puma. Und blieb dort 16 Jahre lang als Produktentwicklerin.

Kürzlich kam der Wendepunkt. Puma eröffnete, dass man sie in Hongkong sehen würde. Ein weiterer Schritt auf der Karriereleiter, aber auch ein großer Einschnitt für die Familie. Schon einmal hat die Alleinerziehende erlebt, wie schwer es ist, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen. Und so lehnte sie nach kurzer Bedenkzeit ab. Mehr noch: Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen - und sprang ab.

Sicherheit und finanzielle Freiheit ließ sie hinter sich und kam in ihrem Wohnzimmer eines Reihenhauses in Zabo an. Dort zwackte sie im Wohnzimmer den Bereich für ihr Atelier ab, die nötigen Maschinen und sonstiges Werkzeug besaß sie als passionierte Schneiderin bereits. Momentan genießt sie es, wie sie sagt, nahe dran zu sein. Nahe an ihrer Tochter, die in die vierte Klasse geht. Nahe an ihrem ehrenamtlichem Engagement bei der Drogenhilfe . Und nahe an den Kunden, die ihr ein Lächeln schenken, wenn sich wieder mal eine Anfangs-Idee zu einem vollendeten Werk entwickelt hat.

Denn das ist der Gedanke, der hinter dem Label "Seelenfreunde" steht, das sie sich neben "NAHT&TAT" gesichert hat: Alten aber wertvollen Dingen eine neue Funktion zu geben. "Bei vielen Stoffen oder Kleidungen mit ideellem Wert ist es viel zu schade, dass sie irgendwo in einer Box liegen." So hat sie einem Friseur aus dessen Motorradhose eine Schürze genäht ("er trägt sie begeistert") und fertigt Taschen aus abgelegten Jeans. Mit viel Einfühlungsvermögen setzte sie auch den Gedanken einer Kundin um: Deren Ehemann war gestorben. Aus dessen früherem Lieblingsshirts fertigte Kerstin Goy-Yun eine Stoffratte, das Lieblingstier deren Tochter. "So kann das Kind sie nun ganz nah bei sich haben und kuscheln", sagt die Designerin.

Jeder Kunde willkommen

Kerstin Goy-Yun versucht sich unternehmerisch möglichst breit aufzustellen. Sie nimmt Aufträge von großen Firmen an, bringt die eigene Kollektion heraus (einige Exemplare davon sind aktuell bei Manu und Martin Seidel im KreativFenster des Bioladens, Ausiger Platz 2, zu sehen) und bietet Kurse an. Doch auch wer nur einen Reißverschluss an seine alte Lieblingsjacke angenäht haben will, ist als Kunde willkommen.

Ob und wie das ganze Konzept sich tragen wird – das kann Kerstin Goy-Yun noch nicht sagen. Fest steht, wer sie in ihrem Atelier erlebt, der hat das Gefühl, dass da jemand am richtigen Ort ist. "Rückblickend werde ich dann sehen, ob das alles unternehmerisch so aufgegangen ist", sagt sie nachdenklich - und fügt nach einer kurzen Pause mit dem ihr eigenem Schwung dazu: "Aber ich werde auf jeden Fall sagen können, dass es ich meinen Traum verwirklicht habe."

Info: www.naht-und-tat.de

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