Die Wahrnehmung ist trügerisch

11.2.2019, 20:56 Uhr

"Mir fiel im Lauf von etlichen Jahren auf, dass der Jahrgang 1955 bei den Verstorbenen öfter vertreten war", schreibt R. Sie selbst sei Jahrgang 1954. Aus diesem Jahr seien, so meint sie, bisher "eher weniger" Menschen gestorben. War 1955 vielleicht, fragt die Leserin, besonders geburtenstark oder gesundheitlich beeinträchtigt?

Was ist dran an diesem sehr subjektiven Verdacht? Unsere Anfrage benötigt einige Tage und den hilfsbereiten Leiter des Amts für Stadtforschung und Statistik. Er sucht die jeweiligen Mannstärken und die Sterbefälle für die Nürnberger Geburtsjahrgänge 1945 bis 1965 heraus. Das Ergebnis lautet: keine Auffälligkeiten. In den vergangenen drei Jahren starben ähnlich viele Menschen aus R.s zwei Vergleichsjahrgängen, die beide jeweils knapp 6000 Menschen umfassen. Im Jahr 2018 dünnten 67 Todesfälle den Jahrgang 1954 aus. Bei den ein Jahr Jüngeren starben 43. Im Jahr zuvor war es nahezu umgekehrt. Noch ein Jahr früher lagen die Sterbefälle gleichauf.

Nun könnte eine Erklärung freilich auch in den Traueranzeigen selbst liegen. Möglicherweise erscheinen in einem Jahr mehr Anzeigen für die 1955 Geborenen als für die 1954 Geborenen in der Zeitung, weil die einen Angehörigen mehr Wert auf eine Todesanzeige legen und die anderen eher darauf verzichten. Unsere Anzeigenabteilung führt darüber keine Statistik. Über die Jahre dürfte sich dieser Effekt aber ausgleichen.

Es mag Frau R. enttäuschen oder auch beruhigen, aber wir haben es hier vermutlich mit einem klassischen Fall von selektiver Wahrnehmung zu tun. So heißt in der Psychologie das Phänomen, dass das menschliche Gehirn, weil es Muster bilden möchte, bestimmte Informationen eher aufnimmt und andere ausblendet.

Unbewusst nimmt man jene Dinge stärker wahr, die einen persönlich beschäftigen. Schwangere sehen ganz plötzlich mehr Schwangere. Das bringt sie zur Überzeugung, dass es mehr Schwangere als früher geben muss.

Wohl jeder Leser von Traueranzeigen gleicht den Jahrgang der Verstorbenen mit seinem eigenen ab und erschrickt, wenn die "Einschläge näher kommen". Michaela R. achtet besonders auf die Jahre direkt um 1954. Dass es vielleicht genauso viele Todesanzeigen zu 1961 oder 1949 geben mag, entgeht ihr. Und noch ein Hinweis zum Um-die-Ecke-Denken: Gemäß der Biologie müssen aus R.s Jahrgang bereits mehr Menschen aus dem Leben getreten sein als aus dem Folgejahrgang. Der Jahrgang 1955 umfasst also zahlenmäßig schon mal mehr Leute, die in einer Traueranzeige auftauchen können.

"In meinem Alter stirbt man nicht mehr"

Ein schönes Zitat zur selektiven Wahrnehmung ist in diesem Zusammenhang von Ernst Jünger überliefert. Der Schriftsteller wurde 102 Jahre alt. Mit 101 soll er beim Mittagessen mit Bekannten einmal nach seiner Angst vor dem Tod befragt worden sein. "Ach, wissen Sie", sagte er da, "ich schaue mir morgens in der Zeitung die Todesanzeigen an und stelle fest: In meinem Alter stirbt man nicht mehr." Statistisch Unsinn, aber für den Zeitungsleser die Wahrheit!

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