Eilige Fracht: Patient wartet schon auf neue Niere

12.8.2009, 00:00 Uhr
Eilige Fracht: Patient wartet schon auf neue Niere

© Karlheinz Daut

19.42 Uhr, Dieter Horst macht Überstunden im Büro, sein Piepser beginnt zu vibrieren. Sofort ruft er im Transplantbüro an. Eine eben entnommene Spenderniere muss in der Uni-Klinik Erlangen abgeholt und mit dem Auto nach Frankfurt gefahren werden, damit sie mit dem letzten Linienflug des Tages rechtzeitig in Brüssel ankommt, wo schon der Empfänger wartet: vorbereitet für die Transplantation.

Horst lässt in dem Industriebetrieb, in dem er arbeitet, alles stehen und liegen. Um 21.40 Uhr wird der Flieger abheben, nicht einmal zwei Stunden Zeit. Das wird knapp.

Welcher Patient das Organ am dringendsten braucht

Abfahrt mit Blaulicht, Funkdurchsage an die Leitstelle: «Akkon Nürnberg 9 auf Empfang mit Organtransport über Erlangen, Fahrtziel Frankfurt Flughafen.» Er kommt zügig voran, erreicht um 20.13 Uhr die Pforte der chirurgischen Klinik, wo schon die weiße Styroporbox mit der Niere wartet. Horst verstaut sie auf der Rückbank seines Audis, will sofort los, aber der Pförtner sagt, eine Ärztin wolle ihn sprechen. Horst telefoniert, erreicht niemanden, versucht es wieder, endlich hebt die Ärztin ab.

Sie möchte lediglich wissen, wohin das Organ kommt - eine Entscheidung, die die Stiftung Eurotransplant im niederländischen Leiden trifft; sie allein legt fest, welcher Patient es am dringendsten braucht. Horst ist kurz angebunden, legt auf und ärgert sich über die verlorenen Minuten.

Helikopter darf nicht starten

Herz und Lunge müssen innerhalb von vier Stunden nach der Entnahme transplantiert werden, bei einer Leber sind es sechs, bei Nieren etwas mehr. Die simple Regel: Je früher das Organ beim Empfänger ankommt, desto besser sind die Chancen, dass die Transplantation gelingt. Zeitdruck herrscht für Horst also immer.

Kurz vor der Autobahn, bei Dechsendorf, fängt es an, in Strömen zu regnen. Als Horst auf die A 3 fährt, erwartet ihn auch noch dichter Verkehr. Ein österreichischer Brummifahrer erfasst die Lage, wechselt auf die linke Fahrspur, blockiert Autos und Laster. Horst kann Gas geben, denkt sich: Danke, Kumpel.

Aber auf der A 3 ist, wie so oft, zu viel los; immer wieder muss er abbremsen, sein Zeitplan ist illusorisch. Er funkt die Leitstelle an und fragt: Was ist, wenn ich es nicht schaffen sollte? Die Johanniter-Kollegen sprechen mit dem Transplantbüro, Ergebnis: Es gibt keine Alternative, wegen des schlechten Wetters erhält der Rettungshubschrauber keine Starterlaubnis. Horst muss also den Flug in Frankfurt erreichen.

Er kämpft sich durch den Verkehr

Anfangs, in den 80er Jahren, hatten die Johanniter etwa zehn solcher Fahrten im Jahr. Heute transportieren sie in Spitzenwochen allein bis zu 15 Organe. Längere Strecken fliegt Horst, Distanzen bis 500 Kilometer fährt er aber mit dem Auto.

Schon zigmal stand er im Lauf der Jahre im Operationssaal. Beobachtete die Entnahme eines Herzens, einer Leber oder Bauchspeicheldrüse. Bekam das Organ in einer Styroporbox überreicht, eilte damit los.

Noch eine Stunde bis zum Abflug, Horst ist erst bei Geiselwind. Während er sich durch den Verkehr kämpft, versucht seine Leitstelle alles, um eine Startverschiebung zu erreichen.

Er musste wortlos an ihnen vorübergehen

Aber: Ein Verantwortlicher, der so eine Entscheidung treffen mag, ist auf die Schnelle nicht greifbar. Außerdem ist die Maschine voll besetzt, und in Brüssel warten Anschlussflüge.

Während der Fahrt denkt Horst kaum daran, was er da auf der Rückbank hat: eine Kiste, nur mit einem Klebeband verschlossen, darin ein Organ, das in einer vier Grad Celsius kalten Flüssigkeit schwimmt. Erst im Nachhinein, wenn die Anspannung abfällt, kommen auch Gedanken an Leben und Tod. Damit muss er dann allein umgehen, niemanden darf er kennenlernen, weder Patienten noch Angehörige.

Manchmal fällt das schwer. Wie gerne hätte er, als er beispielsweise eine Niere für ein Kind nach Heidelberg fuhr, den Eltern alles Gute gewünscht. Zufällig sah er Vater und Mutter im Klinikgang, musste aber wortlos an ihnen vorübergehen, durfte sie nicht einmal ansprechen. Das ist Vorschrift.

Wendiger mit dem Motorrad

Was ihn antreibt, ist ebenso schlicht wie einleuchtend: «Mich begeistert, dass man Menschen helfen kann.» Eine Begeisterung, die so groß ist, dass der gelernte Einzelhandelskaufmann, als er einst von Nürnberg nach Mannheim versetzt wird, seine leitende Position aufgibt und gar den Beruf wechselt: Er will zurück nach Nürnberg, zu «seinen» Johannitern, lässt den Einzelhandel hinter sich und fängt bei einem hiesigen Industriebetrieb zu arbeiten an. Seine Leidenschaft gilt dem Rettungsdienst, jahrzehntelang ist er im ehrenamtlichen Sanitätsdienst tätig - alles andere muss da zurückstecken.

Heute, im Rückblick, würde er die Prioritäten anders setzen, zumindest was seine Familie betrifft, die ihn damals zu wenig sieht. Denn über zwei Jahrzehnte hinweg ist er in Nürnberg für die Johanniter verantwortlich, baut die Organisation auf, engagiert sich als Ehrenamtlicher über die Maßen und sorgt reihenweise für Innovationen. Er führt «Autobahnwachen» ein, auch das «Rettungsmotorrad», mit dem man wendiger ist. Bringt am Rettungswagen einen roten Streifen an (was zur Norm wurde), um besser gesehen zu werden. Stellt den Rettungsdienst auf hauptamtliche Beine, so dass die Johanniter in Nürnberg heute 50 Festangestellte haben.

Ehrenamtlich bis zu 30 Stunden pro Woche

Und er selbst? Warum machte er seine Liebe nie zum Hauptberuf? «Ich hatte Angst, sie könnte darunter leiden.»

Noch immer arbeitet der heute 68-Jährige ehrenamtlich, bis zu dreißig Stunden in der Woche, als Rettungsassistent, als Fahrer, einsatzbereit ist er immer. Anrufe für Organtransporte kommen oft mitten in der Nacht, wenn die Operationssäle frei sind, Entnahmen ungestört stattfinden können. Das schlaucht natürlich. Aber ans Aufhören denkt Horst nicht. «Solange es die Gesundheit zulässt, mache ich weiter.»

Blaulicht wird übersehen

Würzburg, Wertheim, Marktheidenfeld. Noch 86 Kilometer bis Frankfurt, aber nur 25 Minuten bis zum Abflug. Das wäre ein Schnitt von 180 Stundenkilometern. So schnell ist er gerade unterwegs. Doch nicht lange. Zwei Brummifahrer vor ihm veranstalten einen Zweikampf um Zentimeter. Horsts Blaulicht scheinen sie nicht zu bemerken, also gibt er Lichthupe.

Endlich reagieren sie. Der eine Brummi schert nach links aus, der andere nach rechts. Horst kann durch die Mitte, perfekt.

Rohrbrunn. Das Wetter wird immer schlechter, Sichtweiten von 50 bis 80 Meter. Einerseits gilt die Maxime: Sicherheit vor Schnelligkeit. Andererseits wartet in Brüssel ein Mensch auf dieses Organ auf seinem Rücksitz, um damit ein neues Leben zu beginnen. Doch in wenigen Minuten ist Abflug. Das wird Horst nicht schaffen.

Kurz darauf trifft eine Nachricht der Leitstelle ein: Sie hat erreicht, dass der Start um 20 Minuten verschoben wird. Horst schöpft Hoffnung. Andererseits wird es auch mit diesem Zeitpolster eng - er ist ja noch nicht einmal in Hessen.

Polizei geleitet über Feldwege

In seiner Not funkt er die Polizei an, die ihm schon öfter geholfen hat, in Köln einmal, als Stau war, da geleitete sie ihn über Nebenstraßen, sogar Feldwege. Vielleicht haben sie auch diesmal eine Lösung parat. Doch die Beamten winken ab, können ebenfalls keinen Hubschrauber schicken, das Wetter ist einfach zu schlecht. Horst ist auf sich allein gestellt, fährt um jeden Meter.

Frankfurter Kreuz. Die Flughafenfeuerwehr wartet schon, lotst ihn durch den Verkehr. Horst atmet auf, muss keine Sekunde verschwenden, um den schnellsten Weg zu finden. Als sie am Tor 12 des Flughafens ankommen, wird er nur kurz vom Bundesgrenzschutz kontrolliert und gleich weitergewunken.

Punkt 21.59 Uhr kommt er mit seinem Auto vor dem Flieger zum Stehen. Horst springt aus dem Wagen, läuft zur Treppe, hoch ins Flugzeug, bringt die Styroporbox ins Cockpit.

Bevor er geht, darf er über den Bordlautsprecher noch eine Durchsage machen. Er bedankt sich bei den Passagieren, bittet um Verständnis wegen der Verspätung. Als er das Flugzeug verlässt, ist Beifall zu hören.