Ein Mensch, geschunden bis in den Tod

7.12.2005, 00:00 Uhr
Ein Mensch, geschunden bis in den Tod

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„Tanzberger & Genossen“ wurde 1932 der erste Schauprozess gegen Kommunisten in Nürnberg gemacht. Franz Tanzberger wurde zu Zuchthaus verurteilt, er starb 1945 im KZ. Jetzt haben — kaum zu glauben — Hauptschüler vom Hummelsteiner Weg sein Leben erforscht und schreiben einen Tatsachenroman.

„Er sitzt im Februar 1945 in einem Güterwaggon und kann gar nicht glauben, dass es wirklich so ist. Dies ist keine gewöhnliche Reise, es ist die schlimmste und vielleicht auch die letzte für ihn.“ So beginnt das Buch, an dem die Hauptschüler seit anderthalb Jahren arbeiten. Nun sind sie nach Nordhausen in Thüringen gereist, wo Franz Tanzberger sehr wahrscheinlich starb.

„Mittelbau Dora“ ist das letzte KZ, das die Nazis errichteten. In Stollengängen tief im Berg haben sie ab 1943 die geheimen V-Waffen gebaut — unter Bedingungen, die Häftlinge zu Tausenden krepieren ließen. 20 000 der 60 000 starben. Franz Tanzberger muss unter ihnen gewesen sein, sagt Britta Scheuer, seit zehn Jahren pädagogische Mitarbeiterin der KZ-Gedenkstätte. Genau weiß man das nicht. Listen wurden keine mehr geführt, als im Feburar 1945 neue Züge mit Häftlingen ankamen. Der Winter war bitterkalt, die Waggons teilweise oben offen und nur wenige überlebten die oft tagelange Reise. Die vielen Toten habe man nicht mehr zum Krematorium geschafft, sondern gleich neben der Rampe verbrannt.

Auf dieser Rampe stehen die Schüler aus Nürnberg mit blassen Gesichtern, blättern in langen Häftlingslisten. So viele Menschen, so viele Schicksale. Lange hat Aylin (14) über die Rede nachgedacht, die sie Franz Tanzberger geschrieben hat. „Wir sind stolz darauf, dass wir dir deine Identität wiedergegeben haben“, trägt die Hauptschülerin vor. „Du warst ein sehr humorvoller Mensch, der niemals aufgegeben hat. Dein Kampfgeist und Optimismus begeistern uns.“

Akte über Genossen

Vor anderthalb Jahren haben die Jugendlichen begonnen, das Leben von Franz zu erforschen. Ausgangspunkt war eine dicke Akte über „Tanzberger & Genossen“, die die Lehrerin Gerda Reuß bei Recherchen für das Projekt „Namen statt Nummern“ der Gedenkstätte Dachau entdeckt hatte. Wer war der Mann mit Igelschnitt und dem intensiven Blick, der im Mittelpunkt des ersten Schauprozesses gegen Kommunisten stand?

„Unser Vater war ein Trinker und hat uns acht Kinder und die Mutter viel geschlagen. Hauptsächlich mich, weil ich immer kränklich war und die Schule nicht besuchen konnte“, schreibt Franz in seinem Lebenslauf. Die schlechten Startbedingungen haben ihn geprägt, er bleibt körperlich immer schwächlich und verübt früh kleine Straftaten. Auch später stiehlt er, ist oft dabei, wenn geschlägert wird. Kein guter Mensch?

Gründlich eingearbeitet

Und doch: Die Schüler mögen ihn als Person, haben Verständnis für seine Lebensumstände entwickelt. „Die haben geklaut, um zu überleben“, sagt Dragana (16) und überlegt. „Vielleicht hätten wir das auch getan in dieser Zeit.“ Die Hauptschüler haben sich gründlich eingearbeitet: Sie waren im Staatsarchiv, dem Stadtarchiv und im Schulmuseum, haben in alten Zeitungen geblättert und 800 Seiten Gerichtsakten gewälzt.

Sie haben ins Ausland telefoniert und es ist ihnen gelungen, den Großneffen von Franz Tanzberger zu finden. Der hat die Klasse 9c dann besucht und aus der Familie über Franz erzählt. Gelingen konnte dies nur durch die Hilfe begeisterter Archivare und mit Unterstützung von Los (Lokales Kapital für soziale Zwecke), das auch die Reise nach Nordhausen finanziert hat.

Sogar im Bus pauken die Schüler. Essef (16) und Burak (15), der ein erfolgreicher Taekwondo-Sportler ist, lesen in den originalen Gerichtsakten und versuchen, sie zu verstehen. Wie muss man sich das „Kosttürchen“ vorstellen, das Franz bei einem Ausbruchsversuch aufhebeln wollte? Was ist ein Abort? Mitschüler Kevin, gebürtiger Nürnberger, wird geholt. Deutschunterricht, Sachkunde, Geschichte und politische Bildung — die Arbeit an dem Buch ist alles in einem.

Essef und Burak werden die Szene im Gefängnis später den „Schreibern“ vorspielen. Die versetzen sich in die Haut von Franz Tanzberger und die damalige Zeit, verknüpfen Tatsachen — etwa das Kinoprogramm mit Hans Albers Filmen, die aus Gerichtsprotokollen bekannte Beute und das Geschehen am Aufseßplatz — mit ihrer Fantasie.

Verheerender Brand

Das gelingt den Jugendlichen unglaublich gut. Alles lebt: Die schlimme Kindheit, das strenge Erziehungsheim, die marodierenden Kommunistenfreunde oder die zarte Liebe zu Mina, die beim verheerenden Brand in der Mars-Bleistiftfabrik ums Leben kommt. Dass Jugendsprache in den Text hineinblitzt — so beschimpft etwa der Vater den kranken Franz als „Weichei“ —, macht den Roman umso lesenswerter. Auf die große Leistung ihrer Arbeitsgruppe ist Lehrerin Reuß sehr stolz. „Da kann ich über vieles hinwegsehen“, sagt sie. Über Disziplinprobleme, mangelhaftes Deutsch und den üblichen Ärger einer Brennpunktschule.

Die Klassenfahrt ins KZ nach Nordhausen ist ein wichtiger Schritt. „Verdammt“ murmelt Federico, als er vor den Öfen im Krematorium steht. Alles mit eigenen Augen zu sehen, trifft die Schüler unerwartet. Den Film etwa, der bis aufs Skelett abgemagerte Männer bei der Befreiung der KZs zeigt. In Alena (16) kocht die Wut: „Dass die gar nicht bestraft wurden, die das gemacht haben!“ Später stehen die Neuntklässler fassungslos in den lichtlosen Stollen, in denen Goebbels die „Vergeltungswaffen“ bauen ließ.

Die Luft ist muffig, es hat gerade sieben Grad. Rechts und links liegen rostige Raketentrümmer, im Beton unter den Füßen sind die begraben, die bei der Arbeit vor Erschöpfung starben. „Kann man die nicht rausholen?“ fragt Cristina entsetzt.

Beim Hinausgehen vergräbt sie die Hände in den Taschen und zieht den Kopf zwischen die Schultern. Alle frösteln beim Gedanken an die dünne Häftlingskleidung. „Zwei Tage, dann wäre ich gestorben“, sagt Alena. Die Heimfahrt im Bus ist still und nachdenklich. Was mag Franz Tanzberger — ihr Franz, den sie so gut kennen — gedacht haben auf der letzten Reise? „Immer mehr fühlt er sich, als ob er sich von seinem Körper lösen würde, als ob er den Körper mit all den Lasten und Problemen einfach hinter sich zurücklassen würde und sein Geist und seine Seele frei und leicht schweben würde.“

Das Leben von Franz Tanzberger soll als Buch erscheinen. Für den Druck hofft die 9c auf Spenden. Kontakt: Gerda Reuß, Hauptschule Hummelsteiner Weg 25, 90459 Nürnberg, Telefon 44 40 24.