"Food-Sharing" in Nürnberg: Auf den Tisch statt in den Müll

8.1.2014, 07:59 Uhr
Ob Pfifferlinge, knackiges Obst und Gemüse oder Nudeln: Ohne die Food-Sharer wäre all dies im Müll gelandet.

© dpa Ob Pfifferlinge, knackiges Obst und Gemüse oder Nudeln: Ohne die Food-Sharer wäre all dies im Müll gelandet.

Eine Schachtel Pralinen oder einen Schoppen Wein zum Essen mitzubringen, gehört zum guten Ton. Was Brigitte Adelmann die Treppen hochschleppt, fällt aber einige Nummern größer und schwerer aus als übliche Gastgeschenke. Stolze 20 Kilogramm wiegt die grüne Kiste voller Kartoffeln, die sie an der Tür im dritten Stock endlich jemand anderem in die Hände drücken kann.

Mitch Polik, dem die erleichterte 57-Jährige das ungewöhnliche Mitbringsel überreicht, reagiert jedoch alles andere als überrascht. Der 35-Jährige nimmt die Kiste und bringt sie schnurstracks in die Küche, wo andere Gäste bereits um den riesigen Esstisch Platz genommen haben. Statt langweiligem Small-Talk an gedeckter Tafel, ist hier jedoch Anpacken angesagt. Überall wird emsig Gemüse geschält, geviertelt, geschnitten oder gewürfelt.

Selbst Kerstin Penz, die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Helmut Uhlfeld etwas später zur Runde dazustößt, bietet als Erstes an: „Gebt mir doch einen Schäler, dann mache ich schnell mit.“ Um den großen Berg an Lebensmitteln abzutragen, der sich auf dem Tisch türmt, kommt schließlich jede Hilfe gelegen. Selbst Brigitte Adelmanns Enkelin Vanessa macht mit.

Was bei dem Gemeinschaftsprojekt am Ende des Tages heraus- beziehungsweise auf den Tisch kommt, muss sich zwar erst noch zeigen, aber an abwechslungsreichen Zutaten mangelt es wahrlich nicht. Die Palette reicht von Kartoffeln über Paprika, Zucchini, Zwiebeln, Lauch, Karotten und Kohl über Tomaten, Petersilie, Feldsalat bis hin zu frischen Pfifferlingen. „Kommt alles gratis von einer befreundeten Marktfrau“, sagt Rene Petsch. „Wenn wir es nicht mitgenommen hätten, wäre das alles schon im Müll gelandet.“

"Ausschussware" auf dem Tisch

Ein Satz, der bei vielen am Tisch für Kopfschütteln und Stoßseufzer sorgt. Was die Menschen stört, ist aber nicht etwa, dass ihnen ihr Gastgeber „Ausschussware“ auftischt. Es ist die Vorstellung, dass all diese Lebensmittel um ein Haar weggeschmissen worden wären, die die Menschen hier umtreibt. Denn eines eint alle Dinner-Gäste, ob sie nun aus ökologischen Bedenken, wirtschaftlichen Motiven oder aus Respekt vor den kostbaren „Gaben des Herrn“ handeln: Jede Vergeudung von Nahrungsmitteln ist für sie ein rotes Tuch.

Die Aktivisten, die Rene Petschs Einladung zum ersten gemeinsamen Kochen und Essen gefolgt sind, gehören zur noch jungen „Food-Sharing“Szene, die sich den Kampf gegen die gigantische Lebensmittelsverschwendung in Deutschland auf die Fahnen geschrieben hat. Jeder Einwohner schmeißt nämlich Jahr für Jahr durchschnittlich 82 Kilogramm noch essbare Speisen weg. Ein Schaden von insgesamt 22 Milliarden Euro. Mehrere Millionen Tonnen an vermeidbaren Verlusten gehen zusätzlich auf das Konto von Einzelhandel und Gastronomie.

So viel wie möglich von diesem Essen zu retten ist für „Food-Sharer“ wie Petsch nicht nur mit Blick auf Millionen hungernder Menschen in Afrika und anderen Teilen der Welt eine ethische und moralische Verpflichtung. Auch im reichen Europa können sich laut Bericht des Internationalen Roten Kreuzes 43 Millionen Menschen nicht mehr mit eigenen Mitteln versorgen und sind zum Überleben auf Suppenküchen oder Lebensmittelspenden angewiesen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu wahnwitzig, was gleichzeitig so alles auf dem Müll landet, berichten die Nürnberger „Food-Sharing“-Pioniere. Die Kartoffeln, die Brigitte Adelmann mitgebracht hat, bekam sie beispielsweise erntefrisch vom Bauern: „Sie haben nicht die richtige Größe und Form und werden deswegen vom Einzelhandel nicht abgenommen“, erläutert die 57-Jährige.

Regelmäßig aussortiert wird im Übrigen auch Frischware in Supermärkten, weil etwa das Wochenende bevorsteht oder Platz für eine neue Lieferung gemacht werden muss, fügt Kerstin Penz hinzu. „Selbst Haltbares wie Obst-Konserven oder Olivengläser wird entsorgt, nur weil mal eine Packung in einer Palette oder einem Karton aufplatzt und die übrigen Packungen dann verschmutzt sind“, weiß sie .

Eine Ode an aufgetaute Kotletts

Unter den Schätzen, die sie und ihr Mann Helmut Uhlfeld bereits vor dem Mülleimer bewahrt haben, finden sich alle erdenklichen Obst- und Gemüsesorten, die sie geliert, gezuckert, eingelegt oder auf sonstige Art haltbar gemacht in mehr als 400 Einmachgläsern in ihrem Keller aufbewahrt. „Bier, das vor dem Ablaufdatum steht, kann man ebenfalls bekommen“, sagt Uhlfeld.

Essensretterin Adelmann hat selbst vor Fleischprodukten, von denen viele Food-Sharer wegen der hohen Verderblichkeit die Finger lassen, keine Scheu. „Wenn beim Einzelhandel die Kühlkette unterbrochen wird, darf die Ware nicht verkauft werden und muss raus.“ Dagegen, die angetauten Koteletts oder Würstchen sofort auf den Grill zu schmeißen, spricht aber gar nichts.

Dennoch ist in den Krautwickeln, die Mitch Polik rollt, etwas Hackfleisch vom türkischen Lebensmittelladen um die Ecke drin, wie der 35-Jährige zugibt. „Der Rest ist aber gespendet“, versichert Rene Petsch. Das Gleiche gilt für das herzhafte Ratatouille und die Gemüsesuppe, die auf den Herdplatten daneben köcheln.

Das man hier nicht satt wird, braucht keiner zu befürchten. Die einzige Einschränkung, mit der Lebensmittelretter am Kochtopf klarkommen müssen, ist, sich von starren Rezeptvorstellungen zu trennen. „Man weiß ja nie, welche Zutaten man letztlich bekommt.“ Doch für kreative Köpfe sind solche Unwägbarkeiten kein Hindernis, sondern eine willkommene Herausforderung: „Ich wäre früher nie auf die Idee gekommen, Pfirsiche in die Tomatensuppe zu tun. Aber wie sich rausgestellt hat, schmeckt es einfach riesig“, schwärmt Mitch Polik.

"Jeder darf gern mitmachen"

Denjenigen, die lieber vorausplanen, statt zu improvisieren, könnte die Internetplattform www.foodsharing.de helfen. Dort, so Petsch, kann jeder unkompliziert Lebensmittel eintragen, die er loswerden will — von der einzelnen Konservendose bis zum kompletten Gefrierschrank-Inhalt, weil man umzieht. Andere Nutzer, die kostenlos etwas abholen wollen, treten über die Seite dann in Kontakt mit ihnen.

„Da darf wirklich jeder gern mitmachen“, wirbt Petsch für die derzeit noch etwas schleppend anlaufende Seite. „Wenn jemand zu viele Krautköpfe hat, soll er sie unkompliziert loswerden können. Ob dann einer im dicken Mercedes zum Abholen vorfährt, ist doch völlig egal.“ Schließlich ist das Ziel nicht, Bedürftige mit Lebensmitteln zu versorgen, sondern Lebensmittel vor der Tonne zu bewahren.

„Food-Sharing-Dinner“ finden jeden dritten Mitwoch im Monat von 17 bis 21 Uhr im Mehrgenerationenhaus Schweinau, Schweinauer Hauptstraße 31 statt. Eingeladen ist jeder — egal ob er etwas mitbringen und mitkochen oder nur mitessen will.

Keine Kommentare