Hundertjährige

Glückwunsch zum 100.! In Nürnberg lässt es sich ganz schön alt werden

22.5.2021, 06:00 Uhr
"Helena Schaller ist ein Phänomen: Mit ihrem Rollator ist sie flotten Schrittes unterwegs", so berichteten wir 2018 anlässlich ihres 105. Geburtstags – Bürgermeister Christian Vogel besuchte die derzeit älteste Nürnbergerin damals in ihrer Wohnung.  

© Eduard Weigert "Helena Schaller ist ein Phänomen: Mit ihrem Rollator ist sie flotten Schrittes unterwegs", so berichteten wir 2018 anlässlich ihres 105. Geburtstags – Bürgermeister Christian Vogel besuchte die derzeit älteste Nürnbergerin damals in ihrer Wohnung.  

Herr Vogel, in Ihrem Terminkalender als Bürgermeister: Wo rangieren 100. Geburtstage auf einer Beliebtheitsskala von 1 bis 10?
Christian Vogel: Ganz oben. Weil man da mal eine halbe Stunde bei den Leuten sein kann und in 99 Prozent der Fälle Freude und Sympathie erntet.

Mögen Sie Lebensgeschichten?
Vogel: Wahnsinnig gern. Man hört auch mal traurige, aber mindestens genauso viele nette Geschichten. Was hat ein Hundertjähriger nicht alles schon erlebt! Meist ist er oder sie auch nicht allein, und es sind schöne Momente, wenn man dann die Kinder, Enkel und Urenkel zusammen erlebt. Fotos darf man auch oft anschauen. Und manchmal stehen die Nachbarn mit im Hausflur, weil sie nachschauen wollen, ob der Bürgermeister wirklich kommt.

Tänzchen im Wohnzimmer

Albert Schaller - nicht verwandt mit Helena Schaller weiter oben im Bild - zählte 2015 zu den wenigen männlichen Jubilaren.  

Albert Schaller - nicht verwandt mit Helena Schaller weiter oben im Bild - zählte 2015 zu den wenigen männlichen Jubilaren.   © Horst Linke

Stimmt es, dass Sie über diese Besuche Tagebuch führen?
Vogel: Ja. Ich schreibe auf meinem privaten iPad seit vielen Jahren ein Tagebuch, darin notiere ich immer einen positiven und einen negativen Gedanken zum Tag. Als ich 2014 Bürgermeister wurde, habe ich zusätzlich eine Rubrik für die Hundertjährigen eingeführt. Ich notiere mir den Namen, den Stadtteil, den Zustand und ein Stichwort, "launig" oder "schönes Lachen" zum Beispiel. So kann ich jeden Besuch nachvollziehen. Vergangenes Jahr hatte ich meinen hundertsten Hundertjährigen.

Wer war das?
Vogel: Definitiv eine Frau. Es war in Erlenstegen, die Tochter war dabei. Den Rest müsste ich nachschauen.

Meist handelt es sich ja um Jubilarinnen, Frauen sind zählebiger.
Vogel: Immer wieder beeindruckend finde ich, wie sich die Frauen herausputzen. In einem Privathaus in der Gartenstadt saß die Jubilarin geschniegelt und frisch frisiert im Pelzmantel da, obwohl es gar nicht so kalt war. Sie wollte mir präsentieren, was sie hat. Manche fragen mich, ob ich ein Tänzchen mit ihnen wage. Oder ob sie mich mal in den Arm nehmen dürfen. Da sage ich, also vor Corona natürlich: Na klar, immer ran! Ich freue mich da wirklich. Eine zitterte mal wie Espenlaub, weil sie so aufgeregt war. Ich habe ihre Hand genommen und gesagt, sie braucht sich nicht meinetwegen aufzuregen, und habe ihr einen Witz erzählt. Das ganze Zimmer hat schallend gelacht, der Bann war gebrochen.

"Sie jammern nicht"

Haben Sie das als Politiker gelernt, mit Menschen locker umzugehen?
Vogel: Eher war es vielleicht sogar der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin. Ich habe das von meinem Vater. Ich habe keine Berührungsängste. Ich will nahbar sein. Wenn mir Bürger schreiben, greife ich oft lieber direkt zum Telefon.


Einblick: So sieht das Büro von Nürnbergs Bürgermeister Vogel aus


Was haben Sie bei Ihren hundert Hundertjährigen beobachtet: Was haben diese Leute gemeinsam?
Vogel: Eine faszinierende Zufriedenheit. Von den Alten kannst du etwas lernen. Sie jammern nicht. Da denke ich mir: Mensch, bleib gelassen, reg dich nicht so auf, es gibt so schöne Momente. In der Ruhe liegt die Kraft – an dem Spruch ist was dran.

Haben Sie herausgefunden, ob es ein Rezept fürs Altwerden gibt?
Vogel: Ich stelle diese Frage fast immer: Was machen Sie denn, damit Sie so fit sind? Manche erwähnen das Schnäpschen in der Früh. Andere nennen Schlaf, Sport, Nichtrauchen. Ein Mann im August-Meier-Heim sagte mir: viel Sex. Er fragte mich auch, ob er bei mir jetzt einen Wunsch freihabe.

Erna Stumpe warf Christian Vogel 2019 begeisterte Blicke zu.  

Erna Stumpe warf Christian Vogel 2019 begeisterte Blicke zu.   © Michael Matejka

Eierlikör und Drehorgel

Und, hatte er?
Vogel: Das höre ich regelmäßig. Meist wird das vorab am Telefon geklärt; eine Flasche Eierlikör steht da ganz oben auf der Rangliste. Dieser Herr aber wünschte sich bei meinem Besuch von mir: "A Sex-Heftla, hier krieg’ ich’s ja net." Ich sagte, dass ich damit nicht dienen könne, er aber bestimmt noch jemanden für die Beschaffung finden wird. Ein anderer Mann wollte unbedingt eine Drehorgel. Wir haben ihm eine Orgel von der VAG organisiert, und er hat dazu dirigiert.

Eine Frau hat mich jedes Jahr angerufen und gefragt, ob sie mich mit einem Kuchen locken könnte, als sie 101, 102, 103 wurde. Ich habe sie immer vertrösten müssen und erklärt, dass ich erst wieder zum 105. komme. Als sie 104 wurde, rief mich die Heimleitung an, um mir mitzuteilen, dass die Dame wohl nicht mehr lange leben wird. Also bin ich tatsächlich hin. Sie saß lachend da und war guter Dinge. Sie starb erst kurz vor ihrem 105., wie mir ihr Sohn später in einem Brief schrieb.

Es gibt Forscher, die einen Zusammenhang mit einem reichen Sozialleben vermuten. Umgekehrt würden einsame Menschen wohl nicht so uralt.
Vogel: Man erlebt alles, intakte Familien genauso wie Alleinlebende. Das ist kunterbunt.

Sie sind 51. Finden Sie es erstrebenswert, so alt zu werden?
Vogel: Wenn man sein Leben noch mit Unterstützung selbstbestimmt regeln kann, dann ja. Meine Uroma ist genau mit 100 Jahren bei guter Gesundheit gestorben, ich habe also vielleicht die Gene dafür. Sie konnte in ihren Garten gehen, hat Zeitung gelesen und Fernsehen geschaut. Aber wenn ich an meinen Vater denke, der mit 72 Jahren schwer krank verstorben ist – wenn man nur noch auf andere und Medikamente angewiesen ist, dann nein.

Das Leben geht zu Ende

Wenn Sie dann wieder gehen, ist das meist ein Abschied für immer. Ist der Tod ein Thema bei diesen heiteren Terminen?
Vogel: Selten. Die Menschen haben sich damit arrangiert. Die, die ich besuche, sind in der Regel relativ fit, auch wenn sie im Bett liegen. Nur selten nimmt mich der Betreffende gar nicht wahr. Ich höre das schon manchmal: "Jetzt reicht’s doch langsam, wenn er mich nur holen täte." Dann versuche ich aufzumuntern.

Einmal hatte ich einen dramatischen Fall. Ich kam zu einer Frau, sie lag in einem Pflegebett im Wohnzimmer, die Familie stand drum herum. Sie keuchte schwer, es hörte sich nach den letzten Atemzügen an. Der Sohn sagte nur immer: "Der Herr holt sie." Ich konnte das nicht hinnehmen und habe darauf gedrungen, doch einen Arzt zu holen. Ein paar Tage später ist die Dame gestorben. Das ist halt so. Aber es hat mich gestört, wie achselzuckend damit umgegangen wurde. Ich lese sehr aufmerksam Todesanzeigen, das habe ich von meiner Mutter. Wenn jemand über hundert ist, schaue ich nach, ob ich bei ihm oder ihr war.

Malka Zbarska feierte 2017 im Adolf-Hamburger-Heim ihren 100. Geburtstag.  "Arbeiten, arbeiten, arbeiten und nicht faul im Bett liegen" benannte sie damals als ihr Lebensmotto.

Malka Zbarska feierte 2017 im Adolf-Hamburger-Heim ihren 100. Geburtstag.  "Arbeiten, arbeiten, arbeiten und nicht faul im Bett liegen" benannte sie damals als ihr Lebensmotto. © Horst Linke

Wenn die Tochter älter aussieht als die Mama

Wen werden Sie nicht mehr vergessen?
Vogel: In der Südstadt machte mir mal eine relativ gebrechliche Frau mit Rollator auf. Ich wollte schon mein Sätzlein beginnen, da schrie sie ins Zimmer: "Mama, er ist da!" Im Wohnzimmer saß dann eine Frau, die 20 Jahre jünger aussah als die Tochter. Die Hundertjährige kochte für ihre Tochter, weil es der schlechter ging als ihr.

Eine andere sehr adrette Dame, nie im Leben sah sie wie hundert aus, empfing mich mit Kuchen und erzählte mir: Das dürfe man ja gar nicht sagen, aber ihr habe der Adolf Hitler immer gefallen, also jetzt natürlich nicht mehr, aber damals halt, sie habe ihn ja hautnah erlebt. Tja, was antwortest du da? Eine andere sagte zu mir: Ach schön, dass ich Sie mal persönlich sehe, aber ich muss Ihnen sagen, in der Zeitung wirken Sie jünger! Ja, in der Zeitung hat er mehr Haare, sagte die, die neben ihr saß. Ganz oft bin ich auch als Herr Maly begrüßt worden.

Tja, in dem Alter hat man Narrenfreiheit. Ihr Vorgänger, Horst Förther, dessen große Leidenschaft ebenfalls die Hundertjährigen waren, fragte die Jubilare aus Gewohnheit immer, was sie gerne essen. Stellen Sie auch so eine rituelle Frage?
Vogel: Wie haben Sie denn heute Nacht geschlafen? Das ist für mich der Einstieg ins Gespräch. Aber dann habe ich keinen Fragenkatalog. Wenn ich zum Beispiel an der Wand lauter Uniformmützen sehe, kann ich da nachfragen. Ein Mann erzählte mir dann, dass er bei der Stadtpolizei gearbeitet hat – da war ich noch gar nicht geboren.


Neuer Rekord: Mehr Über-Hundertjährige als je zuvor


Auch kein Blumengruß mehr

Seit der Corona-Pandemie entfallen die Gratulationsbesuche.
Vogel: Jeder kriegt einen Brief vom OB und vom Ministerpräsidenten, den ich normalerweise übergebe, dazu die Post vom Bundespräsidenten. Anfangs haben wir einen Ratsdiener mit Blumen vorbeigeschickt. Aber die Gesundheit geht vor.

Else Bulla und der Bürgermeister hatten 2018 wohl Vertrauliches auszutauschen. Auf die Frage, wie sie sich an ihrem Geburtstag fühle, gab die Jubilarin zu Protokoll: "Wie halt ne Hundertjährige!"

Else Bulla und der Bürgermeister hatten 2018 wohl Vertrauliches auszutauschen. Auf die Frage, wie sie sich an ihrem Geburtstag fühle, gab die Jubilarin zu Protokoll: "Wie halt ne Hundertjährige!" © Eduard Weigert

Warum schickt das Rathaus dann keinen Präsentkorb oder einen Strauß per Post?
Vogel: Wir sind bestrebt, gerade bei dieser hochgefährdeten Personengruppe das Infektionsrisiko durch nicht zwingend notwendige Begegnungen nicht unnötig zu erhöhen. Denn auch bei einer Lieferung per Post kann der Blumenkorb doch von vielen Jubilaren nicht mehr selbst in die Wohnung getragen werden. Dies müsste dann der Lieferant übernehmen, womit zwangsläufig eine Begegnung im Innenraum entstünde. Dieses Risiko wollen wir derzeit einfach nicht eingehen. Weiterhin geht der Blumengruß eigentlich auch Hand in Hand mit der persönlichen Begegnung.

Die Corona-Pandemie dürfte den Trend leider bremsen, aber eigentlich steigt die Zahl der Hochbetagten immer weiter. Wenn persönliche Besuche wieder möglich werden, schaffen Sie das dann noch, allen zu gratulieren?
Vogel: Ich gehe davon aus, dass dann Oberbürgermeister König oder Bürgermeisterin Lehner den einen oder anderen auch übernehmen wollen. Ich will möglichst viele persönlich besuchen, weil ich es als Wertschätzung sehe. Ich werde dafür oft belächelt, aber mir hat es über die ganzen Jahre immer Spaß gemacht.

Interview: ISABEL LAUER


- Das Einwohnerverzeichnis für Nürnberg umfasste im April 111 Menschen, die 100 Jahre und älter sind. 92 darunter sind Frauen. Die Gruppe wächst seit Jahrzehnten. 2011 waren es 97 "Ü100", jeweils zehn Jahre zuvor nur 53 (2001) und 20 (1991).

- Ältester Mensch in Nürnberg ist aktuell die 107-jährige Helena Schaller. Ihren 105. Geburtstag im November 2018 beging sie rüstig in ihrer eigenen Wohnung.

- Nürnbergs Altersrekordhalter waren bisher, zumindest die nach gesicherter Datenlage, 108 Jahre alt. Zu Jahresbeginn sahen 77 Nürnbergerinnen und 16 Nürnberger ihrem 100. Geburtstag im Lauf des Jahres entgegen.

- Der Männeranteil an den Über-Hundertjährigen ist gering, aber wachsend, aktuell liegt er bei fast 17 Prozent.

- Bis zur Corona-Pandemie erfragte das Bürgermeisteramt beim 100., 105. und danach jährlich, ob Besuch durch städtische Vertreter gewünscht ist – etwa jeder Fünfte stimmt zu. Seit Corona werden nur Glückwunschschreiben verschickt.

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