Mangel an Verkehrserziehung

Nach Defiziten durch die Pandemie: So werden Kinder jetzt sattelfest

30.11.2021, 09:00 Uhr
Nach Defiziten durch die Pandemie: So werden Kinder jetzt sattelfest

© André De Geare

Es war ein heikles, aber lehrreiches Erlebnis. Der Vater war mit seiner Tochter (elf Jahre) mit dem Rad unterwegs. Wie so oft. Diesmal allerdings waren es keine Radwege, sondern kleine Straßen in Mögeldorf. Und: Das Kind wackelte nicht mehr wie früher hinterher, sondern – es ist ja schon groß – radelte vorneweg.

"Die nächste links", ruft der Vater. Die große Tochter streckt auch vorbildlich den linken Arm heraus, nimmt dann aber die Kurve so steil, dass sie irritiert auf der Gegenspur herauskommt. Die Fahrerin des entgegenkommenden Kleinwagens war glücklicherweise nur langsam und sehr aufmerksam unterwegs und konnte sofort bremsen.

"Wir hatten keine Prüfung"

Es blieb: der Schreck. "Ich dachte, das macht man so", meinte das Kind kleinlaut. Als der Vater weitere Grundkenntnisse und Verkehrszeichen abfragt, wird die Elfjährige wortkarg. "Wir hatten ja keine Fahrradprüfung", verteidigt sie sich.

Dem Vater dämmert. Das hatte er gar nicht mehr auf dem Schirm. Die Unterrichtsstunden der Verkehrspolizei, die begleiteten Fahrten auf den Straßen und schließlich die Prüfung - alles ausgefallen. Es gibt Nachholbedarf! Nur, wie geht man da vor?

Englisches Abbiegen

Polizeihauptkommissar Harald Gläser lobt schon mal den ersten Schritt: "Die Eltern sind sich ihrer Verantwortung bewusst." Die geschilderte Situation kommentiert er mit "englisches Abbiegen". In 28 Dienstjahren als Verkehrserzieher hat er einiges gesehen und erlebt. Dann aber wird er ernst, denn es geht um Sicherheit. Um die Sicherheit unserer Kinder.

An meinem Fahrrad ist alles dran! Gut, wenn die Kinder frühzeitig mit dem radeln beginnen. Mit zehn Jahren sollten sie dann die motorisch anspruchsvollen Aufgaben wie Abbiegen mit Armzeichen und Schulterblick behrschen. 

An meinem Fahrrad ist alles dran! Gut, wenn die Kinder frühzeitig mit dem radeln beginnen. Mit zehn Jahren sollten sie dann die motorisch anspruchsvollen Aufgaben wie Abbiegen mit Armzeichen und Schulterblick behrschen.  © puky/pd-f

Auch in Zeiten ohne Pandemie sei die Verkehrsprüfung kein Freibrief, so der Fachmann. Wichtig sei es auch hier, dass Eltern ihre Kinder sowohl vor der Prüfung als auch nach der Prüfung mit wachen Augen begleiten.

Von Wieseln auf Rädern

"Der fährt schon wie der Teufel" ist beispielsweise etwas, das Gläser immer wieder von zufriedenen Eltern hört. "Das mag sein", stellt er dann fest, "aber wenn der kleine Teufel einhändig abbiegen soll, ist es mit dem Können schon vorbei." Ebenso nach der Prüfung: "Erinnern wir uns doch selbst mal daran, wie oft wir nach bestandenem Führerschein in heikle Situationen kamen, bei denen nur das Mitdenken anderer uns gerettet hat", sagt Harald Gläser. Nicht anders sei das bei den frischgebackenen Fahrradprüfungs-Absolventen.

Und wenn nun gar keine stattgefunden hat? Gläser hat drei wichtige Tipps: Üben, üben, üben. Das kann in kleinen Einheiten sein: Vor dem Garten oder im Hof zwei Stühle aufstellen; ein Becher mit Wasser auf einem. Das Kind soll im Vorbeifahren den Becher von einem Stuhl auf den anderen bringen.

Vorweg oder hinterher?

Oder der Schulterblick beim Abbiegen: "Wenn man Kindern den zeigt, reißen sie zwar den Kopf nach hinten, schauen aber nicht." Gläser rät zu einem Trick: "Bleiben Sie stehen und halten Sie einen Gegenstand in den Händen, den das Kind benennen muss."

Für die Theorie hilft es nur, die Verkehrszeichen zu pauken. Unterstützung dafür gibt es im Internet, durch Tabellen oder auf YouTube unter dem Stichwort "Jugendverkehrsschule" – da wird etwa auch der Tote Winkel erklärt. Ansonsten: Raus und Erfahrungen sammeln. Mit den Eltern.

Ob die Kinder dabei vorne oder hinten fahren, sei Geschmackssache. "Fahren die Kinder voraus, können Eltern Gefahren gut erkennen, fahren sie hinterher, können die Eltern ein gutes Vorbild sein."

Mit zehn Jahren

In jedem Fall solle man sich seiner Vorbildfunktion bewusst sein. "Fahren Sie übertrieben korrekt", sagt
der Polizeihauptkommissar. Oder: "Damit es ein wenig spielerisch wird, kann man sich aber auch übertrieben ungeschickt stellen", sagt Gläser, "dann dürfen die Kinder auch mal verbessern."

Mit zehn Jahren, so der Verkehrserzieher, sollten die Kinder motorisch und sensomotorisch so weit sein, die teils komplexen Vorgänge korrekt durchführen zu können.

Schmerzhaft für den Polizisten ist, dass er immer öfter nicht den begehrten Wimpel ausstellen kann. "Die Kinder sind keineswegs dümmer als früher, aber die Defizite in der Bewegung sind erschreckend groß." Früher undenkbar: Manche besitzen gar kein Fahrrad.

Fünf mal zwei Stunden hat der Polizist zur Verfügung, um – nach der Vorarbeit der Lehrkraft – die Kinder flott fürs Fahrrad zu machen. Nicht viel. "Wir könnten mehr gebrauchen", sagt Gläser. Aber zunächst mal muss man froh sein, wenn im März überhaupt wieder damit begonnen werden kann.