Ein Leben nach der Massentierhaltung

Nürnberger Tierschützer retten Hühner in Nacht-und-Nebel-Aktion

22.9.2021, 05:58 Uhr
Abfallprodukt der Eierindustrie: Zwei von 862 Legehennen in einer Zehnerbox, die ein zweites Leben geschenkt bekommen.

© Moritz Schlenk Abfallprodukt der Eierindustrie: Zwei von 862 Legehennen in einer Zehnerbox, die ein zweites Leben geschenkt bekommen.

Marilyn, Monroe und Hope sind die Ruhe selbst. Erhobenen Hauptes stolzieren die drei übers saftige Grün. Hier und da picken sie nach dem frisch gestreuten Futter. Der zur Feier des Tages servierte Willkommensgruß des Hauses Göbel: Mehlwürmer. Die Leckerbissen lassen die drei bräunlich gefiederten Hennen jedoch gänzlich unbeachtet. Stattdessen erkunden sie neugierig die Umgebung, was wiederum Magda und Lina, zwei der vier anderen Hühner, mit Argusaugen beobachten. Denn: Die Neuankömmlinge wirbeln die Hackordnung der gluckenden sieben im Stall gehörig durcheinander.

Vom Trubel der vergangenen Nacht, den die drei ehemaligen Hochleistungshennen hinter sich haben, ist in ihrem neuen kleinen Idyll nahe Neunkirchen am Sand keine Spur. Statt lautem Dicht-an-dicht herrscht an jenem Samstagmorgen eine ruhige Atmosphäre. Im Hintergrund das sanfte Plätschern der Pegnitz.

Abfallprodukt der Eierindustrie

Sechs Stunden zuvor: Um vier Uhr morgens bestimmen wildes Gegacker und waghalsige Fluchtversuche das Geschehen im dunklen Stall des Großbetriebs. Marilyn, Monroe und Hope sind zu diesem Zeitpunkt lediglich drei von 862 Legehennen, denen die Aktiven des bundesweiten Vereins "Rettet das Huhn" in dieser Nacht ein zweites Leben schenken. Statt im Schlachthof landen sie bei tierlieben Menschen in artgerechter Haltung. Ohne das Zutun des Vereins hätte das Leben der gerade mal 15 Monate alten Tiere als Brühwürfel, Tierfutter oder billiges Suppenhuhn geendet. Ein Schicksal, das laut dem Statistischen Bundesamt in Deutschland jährlich rund 33 Millionen Legehennen ereilt. Bereits nach rund einem Jahr "Legedauer" erscheinen die Tiere aus wirtschaftlicher Sicht nicht mehr rentabel. In einer auf Profit optimierten Eierindustrie folgt auf eine sinkende "Legeleistung" ein Austausch der Tiere.

Mit ihren Aktionen bewahren die Ehrenamtlichen des Vereins jährlich rund 15.000 Legehennen vor dem Tod. Seit 2007 konnten so über 100.000 Tiere gerettet werden. In dieser Nacht sind die Tierschützer zu einem "Vorzeigestall" im tiefsten Niederbayern unterwegs. Die Einsätze sind vorher mit den jeweiligen Landwirten, die sich dadurch die Kosten für das Ausstallen und den Transport zum Schlachthof sparen, abgesprochen. Die Nacht-und-Nebel-Aktionen sind also komplett legal.

Unter den Aktiven befinden sich vier Nürnbergerinnen. Eine Stunde nach Mitternacht brechen sie auf. Die 32-jährige Natalie Schirmer, die seit 2016 bereits vielfach nächtliche Touren mitorganisiert hat, ist eine von ihnen. Nach einer von Schlafmangel und Koffein geprägten Nacht erreichen die Nürnbergerinnen um Natalie und die anderen 20 Ehrenamtlichen aus Bayern und Baden-Württemberg gegen drei Uhr den Hof in der niederbayerischen Provinz. Eine letzte Stärkung, dann geht es los. Nur ein Mann im Alter von 17 Jahren ist dabei, der Rest der jungen Truppe ist weiblich.


Fast 20.000 Tiere: Immer mehr Nürnberger halten Hühner


Das Team wirkt eingespielt. Es werden Dreiergruppen gebildet: Fänger, Zähler, Pflegi-Check. "Pflegi" steht für Pflegehuhn. Damit sind Hühner gemeint, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung einzeln transportiert und einem nachträglichen Tierarzt-Check unterzogen werden müssen. Anhand der "Pflegis" in einem Stall lassen sich die Haltungsbedingungen der Hennen ablesen. Am Ende dieser Nacht werden lediglich vier solcher Tiere in Einzelboxen untergebracht sein. Bedingungen, die eher die Ausnahme sind. Bei anderen Aktionen - überwiegend in Betrieben mit Bodenhaltung - kann es vorkommen, dass die Hälfte der Hennen aufgrund von zerrupftem Gefieder, Abszessen am Fußballen oder einem "Wasserbauch" gesondert behandelt werden muss.

Presse nur in Ausnahmefällen erwünscht

Geschichten von katastrophalen Zuständen in den Ställen haben viele hautnah miterlebt. Ob tote, verwahrloste oder blutig gepickte Tiere - welche Bedingungen die Tierschützer vorfinden, wissen sie vorher in der Regel nicht. Diesmal ist das anders: Den Hennen im niederbayerischen "Vorzeigestall" ging es bei den vorherigen Einsätzen stets vergleichsweise gut. Die Begleitung der Aktion durch einen Berichterstatter haben die Retterinnen vorab mit den Betreibern abgesprochen. Dass die Presse in den Ställen geduldet wird, ist äußerst selten.

Kurz nach halb vier in der Früh geht es in die heiße Phase: In die blauen Einweg-Overalls schlüpfen, Atem-Maske und Stirnlampe aufsetzen, noch schnell eine durchsichtige Tüte über die Schuhe ziehen und mit Klebeband festzurren. Fertig. Wichtig: Vor Betreten des Stalls die Lampen auf Rotlicht umstellen, das weiße Licht würde die Hühner aufwecken. Die Hennen sitzen nichtsahnend auf den Stangen. Ideal, um sie rasch von eben jenen zu "pflücken", wie es heißt. Tagsüber wäre das auf dem Freilandhaltungsbetrieb kaum möglich.

Eine Helferin – mit Rotlicht und Huhn.

Eine Helferin – mit Rotlicht und Huhn. © Moritz Schlenk, NNZ

Um kurz vor vier Uhr betreten die Ehrenamtlichen den rund 160 Quadratmeter großen Stall. Der Nachtruhe weicht schlagartig lautes Gegacker. Die Hennen sind hörbar aufgeregt und nervös. Das dichte Meer aus roten Stirnlampen und das ohrenbetäubende Gackern schaffen eine surreale Atmosphäre, unter die sich beißender Kotgeruch mischt. Die Luft ist stickig.

Huhn für Huhn wird "von der Stange gepflückt", nach äußerlichen Krankheitssymptomen abgecheckt und unter mütterlichem Gutzureden ("Wir helfen dir nur") in eine der zahlreichen Boxen verfrachtet. Leichter gesagt als getan: Unter wildem Flügelschlagen wagen immer wieder einige der rund zwei Kilo schweren Hennen verzweifelte Fluchtversuche. Zehn Tiere pro Box. Die jungen Frauen hieven die weißen Behälter nach draußen.

"Je mehr Ruhe man ausstrahlt, desto ruhiger wird das Huhn"

Knapp eine Stunde später ist fast die Hälfte der Hennen im Freien. "Je mehr Ruhe man selbst ausstrahlt, desto ruhiger wird auch das Huhn", weiß Anke, die im Stall eine ängstlich dreinblickende Henne in den Armen wiegt. Der Blick auf die Armbanduhr offenbart: Mittlerweile ist es kurz vor fünf. Draußen dämmert es längst. Der Großteil der mit Hennen beladenen Boxen steht bereits unter freiem Himmel. Drinnen nutzen unterdessen ein paar wenige "verrückte Hühner", so eine Helferin, das mittlerweile fast leere Stangengerüst, um den sich nähernden Rettern zu entwischen. Diese haben sich unterdessen mit Besen bewaffnet, um Fluchtwege abzuschneiden.

Um 5.32 Uhr heißt es schließlich: "Licht an". Alle Hühner sind eingesammelt. Noch ein letzter Kontrollblick in die Legenester. Nach und nach strömen die Ehrenamtlichen an die frische Luft. Die Stimmung ist gelöst. Die Retterinnen sind sichtlich gezeichnet von den vergangenen beiden Stunden. Erst einmal raus aus den verschwitzen Overalls. Die Boxen stapeln sich auf dem Hofvorplatz, die Rettungskette funktioniert.

Ab nach Nürnberg-Eibach

Die Helferinnen verteilen die insgesamt 862 Hühner auf vier weiße Sprinterbusse und einen Anhänger; rund 170 Tiere kommen nach Nürnberg. Angesteuert werden in Bayern neben der Frankenmetropole auch Regensburg und München, in Baden-Württemberg Metzigen, Riedlingen und Tettnang. An den jeweiligen Zielorten werden die Hennen ihren künftigen Haltern übergeben.

Die beiden Nürnbergerinnen Luisa Scholl und Miriam Cervenka beteiligen sich heute zum ersten Mal an einer Rettungsaktion, auch sie sind mittlerweile sichtlich platt. "Wahnsinn, wie viele das sind, dachte ich mir anfangs. Aufgrund des Geruchs ist mir im ersten Moment megaschlecht geworden", erzählt die 29-Jährige, die in der Vergangenheit bereits sechs Hühner zu Hause aufgenommen hat. Die Nürnbergerin ist infolge von Fernsehdokumentationen, welche die meist katastrophalen Haltungsbedingungen der Hühner zeigen, auf den Verein gestoßen. "Zum Glück war das heute bei unserem ersten Mal nicht so ein Horror-Stall", ergänzt Cervenka sichtlich erleichtert.


Hühnerhaltung im eigenen Garten: Was gibt es zu beachten?


Um kurz nach acht erreichen die Nürnbergerinnen den Stadtteil Eibach. In den vergangenen Jahren seien zunehmend junge Familien dem Ruf des Hühnerzuwachses gefolgt, weiß Natalie Schirmer. Doch auch Stammabnehmer sind dabei. Darunter das zu früher Stunde aus Weißenburg angereiste ältere Ehepaar Wägemann. Sie nehmen bereits zum dritten Mal einige Hühner auf. Die Namen ihrer gefiederten drei Neuankömmlinge stehen schon fest: Fani, Hedwig und Kuni.

Vom Nutz- zum Haustier

Wenig später treffen Sandra Göbel und ihr Sohn Milan ein. Im heimischen Garten der vierköpfigen Familie dreht sich seit April vieles um den Federzuwachs. Damals zogen erstmals vier aus Bodenhaltung gerettete Legehennen ein. Eben jene vier scheinen die Neuankömmlinge am frühen Samstagmorgen noch kritisch zu beäugen. Bleibt zu hoffen, dass das zweite Leben von Marilyn, Monroe und Hope harmonisch verläuft. Die Wandlung vom Nutz- zum Haustier hat gerade erst begonnen.

Hier gibt es weitere Informationen zum Verein "Rettet das Huhn". Wer ausgedienten Legehennen ein zweites Leben schenken möchte, kann sich per E-Mail bei Natalie Schirmer unter natalie@rettet-das-huhn.de melden.

Hühner im Glück: Monroe (li.) und Marilyn auf der Wiese vorm Hühnerstall.

Hühner im Glück: Monroe (li.) und Marilyn auf der Wiese vorm Hühnerstall. © Moritz Schlenk, NNZ

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