Projekt «Anders wohnen«

17.12.2009, 00:00 Uhr
Projekt «Anders wohnen«

© Stefan Hippel

Sonja Gleissner wirkt so erleichtert, als sei sie gerade noch mal mit dem Leben davongekommen. 79 ist die Frau mit dem flotten roten Schal, erst seit wenigen Wochen lebt sie im Haus, ihr Triumph ist noch frisch: «Dem Altenheim bin ich entgangen.«

Interessen treffen

Sie ist die Älteste unter 70 Bewohner(innen). Was sie zum Einzug bei «Anders wohnen« bewegt hat, teilt sie mit vielen: mitten im Leben sein, nicht einsam, irgendwo am Stadtrand im totenstillen Eigenheim verräumt - oder mutterseelenallein mit den Kindern. Eine eigene Wohnung haben alle, mal groß, mal klein, doch immer behindertengerecht.

Dass sich die Interessen von Alleinerziehenden und Alten treffen, ist das Ziel. Die jeweilige Dosis Miteinander, die verträglich ist, muss jeder selbst finden. «Das muss erst wachsen, das wird schon noch«, sagen sie auf den Fluren des siebenstöckigen Hauses, in denen es noch intensiv nach frischer Wandfarbe riecht.

Wahlverwandtschaft kann man nicht erzwingen und nicht kaufen wie die Genossenschaftsanteile, die alle Mieter erwerben müssen. Wärme entsteht, oder eben nicht. Die Mieterschaft sei groß genug, dass sich die Richtigen finden können, heißt es. Das sei ein großer Vorteil. Ein Stammtisch, Gemeinschaftsraum und Gästewohnung, eine Dachterrasse mit traumhaftem Rundumblick über die Stadt, ein dreiköpfiger Bewohnerrat, das gemeinsame Sonntagsfrühstück - hier wächst der Kitt, der das große Ganze zusammenhalten soll.

Kaum vom Stress der Bauzeit erholt

Verbindliche Einsatzpläne für Babysitter, das wollten die Älteren vorerst leider nicht, sagt Christoph Arnold (50), Vorstandsvorsitzender der Genossenschaft. Der Architekt und gelernte Altenpfleger hat das üppig von Bund und Land bezuschusste 7,3-Millionen-Projekt am Südstadtpark fast fünf Jahre lang angeschoben. Ganz ohne Plan werde es auf Dauer nicht funktionieren, davon ist Arnold überzeugt. Alleinerziehende bräuchten Verlässlichkeit, und die Senioren irgendwann ja auch.

Er hat sich kaum vom Stress der Bauzeit erholt, und bereits das nächste «Anders wohnen« im Auge, irgendwo im Südosten der Stadt. Der Bedarf sei riesig, das gelbe Haus hinterm Bahnhof hat sich fast ohne Werbung schnell mit Menschen gefüllt.

Dass spät abends noch zwei Nachbarinnen mit einer Flasche Wein unterm Arm klingeln und anstoßen wollen, findet Heidi Schwarz (66) grandios. Die erfahrene Ehrenamtliche hat ihr «letztes Lebensdrittel« bewusst geplant, wollte es selber gestalten. Jetzt bestaunt sie die kleine Talia, die sechs Monate alte Tochter von Öznur Özger (38), die am selben Stockwerk wohnt. Alle paar Wochen gebe es wieder etwas ganz Neues an so einem Baby. Heidi Schwarz will Talia aufwachsen sehen, sie sei bereit für neue Erfahrungen, sagt sie energisch.

Ein wenig gewöhnungsbedürftig

Davon träumt jede Mutter ohne Mann: ohne Hemmungen bei Nachbarn klingeln, wenn sie mal weg muss. Die Mutter von Talia und Timur (15) hofft, dass das bald ganz normal sein wird. Anfangs hätten sich manche der elf Alleinerziehenden in dem Haus mit den 43 Wohnungen als Randgruppe gefühlt. Das sei vorbei. Immerhin gibt es jetzt Telefonlisten mit den Nummern Hilfsbereiter und Arbeitskreise, die aus der Theorie von den familienähnlichen Strukturen solidarische Praxis machen sollen.

«Das ist einfach ein großes Mietshaus, wo sich die Leute außergewöhnlich gewogen sind.« Claas Fock sagt das, der mit Ehefrau Irene im September eine helle Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon bezogen hat. Noch stehen ein paar Bücherkartons herum, fehlen Bilder an den Wänden - und noch finden die beiden 67-Jährigen das «Anders wohnen« ein wenig gewöhnungsbedürftig.

Immer fehlt etwas

Ständig klingelt es an der Wohnungstüre, die Phase des Einzugs ist für alle aufregend - und immer fehle irgendwem irgendetwas. Irene Fock ist gewählte Bewohnerrätin, ein Amt mit Nebenwirkungen. Anfangs sei sie manchmal sogar nach Schrauben gefragt worden. Nicht ihr Bier, eher das Kümmern um die Kinder, die sie schon beschnuppert hat und die auf dem großen Spielplatz im Hinterhof vor ihren Fenstern toben. «Wenn ich aufwache und Kinder schreien höre, dann weiß ich, dass ich noch nicht tot bin.« So wird ein kluger Mitbewohner zitiert. Es sei gut, dass große Teile der Gemeinschaft lange vor dem Start am Stammtisch zusammenwachsen konnten.

Ganz systematisch hat sich auch das Ehepaar Fock über die zahlreichen Wohnprojekte in der Region informiert, die alle etwas anderes wagen wollen als das öde Alleineleben. «Baustelle« heißen sie, «Olga« oder «Wohnlust«; so pfiffig die Namen, so zäh ist oft der Weg zur Realisierung. Was ihr Sohn zum neuen Leben der Eltern gesagt hat, verraten die Focks gerne: «Die haben schon immer gesponnen.«