Starthilfe für den Kunstnachwuchs

14.6.2020, 19:06 Uhr
Starthilfe für den Kunstnachwuchs

© Foto: Michael Matejka

W er von der Nordseeinsel Spiekeroog nach Kassel zieht, kann schon einen kleinen Kulturschock erleben. Großstädtische Unübersichtlichkeit statt dörflicher Beschaulichkeit. Hilke Heithecker hat sich ihre neue Umgebung, in die sie das Studium an der Kunsthochschule Kassel brachte, durch Erlaufen angeeignet. Mit ihrem Smartphone streifte sie durch die Stadt, tippte Straßennamen in ihr Handy und hielt zufällige Beobachtungen in Kurznotizen fest – "Frau mit Lidl Hemd und Aldi Tüte", "Raben jagen Hasen hinterher" oder "Fußgängerzone komplett aufgerissen".

Insgesamt 131 Tage war sie unterwegs. Die Screenshots der einzelnen Tagesprotokolle hat Heithecker in der Galerie Von & Von zu einer großen, gelben Wandtapete montiert. Dass sie den Abfahrtsplänen in Bahnhofshallen ähnelt, dürfte kein Zufall sein, verfügt Kassel mit dem Bahnhof Wilhelmshöhe doch über eines der wichtigsten Fernverkehrsdrehkreuze Deutschlands. Daneben hängen ihre ausgetretenen Sneaker, die ein enormes Laufpensum bezeugen.

Die Lebenswelt der Großstadt erforscht Heithecker in ihrer Kunst – und legt mit leisem Humor die Merkwürdigkeiten des Alltags frei. Ihr Readymade "Dog Control" aus 52 ausrangierten Hundeleinen lässt da auch auf das jeweilige Statusbewusstsein der Hundehalter schließen.

Die 25-Jährige gewann mit ihren Arbeiten den 2. Preis beim bundesweit ausgeschriebenen "Playground Art Prize"-Wettbewerb der Galerie Von & Von, der sich an Studierende ab dem sechsten Semester richtet. Über die drei Gewinner (aus 130 Bewerbungen) entschied erneut eine namhafte Expertenjury, darunter der Schweizer Samuel Leuenberger, Christoph Tannert vom Künstlerhaus Bethanien in Berlin und Felicitas Thun-Hohenstein, Professorin an der Kunstakademie Wien.

Nach Nürnberg anreisen, wie im vergangenen Jahr, um aus der Top- 10-Vorauswahl die Sieger zu küren, konnten sie coronabedingt nicht. Die Auswahl erfolgte per Zoomkonferenz. "Es waren sehr konzentrierte Gespräche mit den Bewerbern, bei denen auch neue Kontakte entstanden", erzählt Projektmanagerin Christiane Wolf Di Cecca und benennt damit das Ziel des Wettbewerbs, der jungen Künstlern beim Aufbau von Netzwerken helfen soll. Wichtiger als die relativ bescheidenen Preisgelder (1000, 300 und 200 Euro) sind die individuellen Coachings, die es für die drei Gewinner gibt.

Der 1. Preis ist zusätzlich mit einer Präsentation auf der Art Karlsruhe verbunden und ging an Alice Hauck und Amelie Plümpe, die sich ebenfalls mit dem urbanen Raum befassen. Das Berliner Künstlerinnen-Duo baut typische Stadtmöblierungen wie Lüftungsschächte, Tankstellenfragmente und Unterstände aus MDF-Platten, Keramik oder Beton nach und verwandelt die Alltagsarchitekturen so in bildhauerische Attrappen.

Der Unterstand mit verspiegeltem Dach würde nur Kindern Schutz bieten, die aus Beton gegossene Streichholzschachtel mit den Keramik-Zündhölzern ist dagegen ins XXL-Format aufgeblasen und wirkt – aufgestellt auf einem den Sockeln von Tanksäulen nachempfundenen Podest – brandgefährlich. Auf einem Rollwagen stehen Reinigungsutensilien – absolut echt aussehend, aber ebenfalls aus Keramik und damit ungeeignet für den Gebrauch.

All das ist in spielerischer Anordnung wie eine Bühne inszeniert, die den Betrachter als Akteur einbezieht – was Hauck & Plümpe beispielhaft auf Fotos ihrer variablen Installationen demonstrieren. Die kommen kühl daher, bergen aber eine Menge Witz und ästhetisches Potenzial.

Den intimen Kontrast bilden die Fotografien von Ramona Schacht, die in Leipzig studiert. In ihren Nahaufnahmen nackter Menschen, von denen nur Körperfragmente und verschlungene Gliedmaßen zu sehen sind, spürt sie den durch das Internet veränderten Beziehungsformen nach. Die Absicht bleibt zwar recht vage und abstrakt, doch berühren ihre Bilder durch die hohe Sensibilität. Verletzlichkeit, Nähe, Begehren vermitteln sich da ebenso wie Einsamkeit und Fremdsein.

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