Unfallorte in Nürnberg: Trauer und Gedenken am Straßenrand

10.11.2018, 05:43 Uhr
Unfallorte in Nürnberg: Trauer und Gedenken am Straßenrand

© Fotos: Michael Matejka

Seit etwa einem Jahr ist es weg. Das Holzkreuz an der Ecke Marthweg/Wiener Straße. "Boy" war darauf eingekerbt, ein Spitzname. Mehr als 24 Jahre stand es dort im Gedenken an Thomas Kiener. Im Alter von zehn Jahren starb er an diesem Fleck, überrollt von einem Sattelschlepper. Das war am 30. Juli 1993, die erste Sommerferienwoche lief an und "Boy" war mit dem Fahrrad von den Großeltern auf dem Weg zurück nach Hause.

Worte reichen nicht, um auszudrücken, was seine Eltern, seine zwei Jahre ältere Schwester und alle anderen Angehörigen in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren durchlebt haben. Ein geliebter Mensch wurde buchstäblich aus dem Leben gerissen.

Holzkreuz statt Blumenstrauß

Einen Tag nach dem schrecklichen Unglück legten die Eltern, Erika und Herbert Kiener, Blumen an die Stelle, wo ihr Sohn den Verletzungen erlag. Irgendjemand stahl den Strauß, der trauernde Vater baute dann das Holzkreuz. Der Platz an der stark befahrenen Kreuzung wurde ein Ort des Gedenkens, den die Eltern fast täglich aufsuchten. "Wir pflegten die Stelle, pflanzen dort im Frühjahr, Sommer und Herbst Blumen und schnitten das Beet frei", sagt Erika Kiener.

Das Kreuz mit den Blumen war jahraus, jahrein zu sehen, es stand an exponierter Stelle, für jeden sichtbar. Eines Tages, so die 61-Jährige, lag ein Zettel an der Gedenkstätte, in Plastik eingeschweißt, so dass Nässe das Papier nicht aufweicht. Darauf stand: "Sehr geehrte Angehörige, der Servicebetrieb Öffentlicher Raum (Sör) plant den Ausbau der Kreuzung Wiener Straße/Marthweg. Bitte setzen Sie sich mit uns in Verbindung, damit wir während der Bauarbeiten einen geeigneten Ort für Ihre Gedenkstätte finden können."

In der Gleißbühlstraße erinnert dieses Geisterfahrrad an einen tödlichen Unfall.

In der Gleißbühlstraße erinnert dieses Geisterfahrrad an einen tödlichen Unfall. © Fotos: Michael Matejka

25 Jahre gaben sich die Eheleute, dann wären sie so weit, die Gedenkstelle aufzulösen. "Wir waren sehr berührt von dem gefühlvollen Schreiben der Stadt", sagt Erika Kiener. Die ganzen Jahre über habe Sör darauf geachtet, den Ort nicht zu zerstören. Es wurde um das Beet herum gekehrt, im Winter achtete man darauf, dass es beim Räumen nicht unter Schnee begraben wurde.

"Wir waren jetzt so weit, auch wenn wir die 25 Jahre nicht ganz erreicht haben. Wir lösten den Gedenkort auf. Doch bei aller Einsicht: Es war für uns ein schmerzlicher Akt." Wollen sie ihrem verunglückten Sohn nahe sein, gehen die beiden nur noch zum Grab in Nürnberg-Worzeldorf. Eine Erfassung, wie viele Gedenkstätten an Nürnbergs Straßen existieren, gibt es nicht, heißt es bei Sör. Vielen ist aber das steinerne Kreuz mit den Blumen an der Stadtgrenze zu Fürth bekannt. Es steht dort auf der Spitze des grünen Mittelstreifens an der Kreuzung Fürther Straße/Höfener Straße. Am 23. September 2006 ließ hier ein 33-jähriger Motorradfahrer sein Leben. Ein 29-jähriger Autofahrer übersah den Biker und stieß mit ihm zusammen.

Im Marientunnel erinnert eine Gedenktafel an Daniel, der im Alter von 21 Jahren mit seinem Fahrrad mit einer Straßenbahn zusammenstieß und verstarb.

Im Marientunnel erinnert eine Gedenktafel an Daniel, der im Alter von 21 Jahren mit seinem Fahrrad mit einer Straßenbahn zusammenstieß und verstarb. © Fotos: Michael Matejka

Auffällig ist auch das Holzkreuz an der Eichendorffstraße. Am 3. September 1994 starb hier ein Radfahrer, als er auf der Fahrbahn gegen einen Pkw prallte. Eine Metalltafel mit der Inschrift "Im Gedenken an Daniel" hängt im Marientunnel. Hier in der Unterführung stieß am 24. April 2014 ein 21-jähriger Radfahrer mit einer Straßenbahn zusammen. Der junge Mann starb noch an der Unfallstelle.

Die jüngste Gedenkstätte wurde an der Fürther Straße aufgebaut, in der Nähe des Justizpalastes. Am 16. Juli 2018 wurde hier ein neunjähriges Mädchen von einem Auto erfasst. Das Kind erlag später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Frische Blumen, Kreuze, Skulpturen und ein Foto, auf dem das Mädchen fröhlich lächelt, erinnern an das junge Leben, das so jäh beendet wurde.

Schmerzlicher Einschnitt

Abgesehen vom Friedhof sind es auch Unfallorte, die Hinterbliebene anziehen. Warum? "An dieser Stelle hat der schmerzliche Einschnitt begonnen. Es ist unser Ort des Innehaltens", sagt Erika Kiener. Therapeutin Inga Thies beschreibt das so: "Den Angehörigen fehlen die Bilder, sie suchen den Platz auf, an dem der geliebte Mensch die letzten Sekunden seines Lebens war. Sie sind ihm hier sehr nahe."

Im Unterschied zu einem Menschen, der nach langer Krankheit oder im hohen Alter stirbt, ist durch den plötzlichen Tod kein Abschied möglich. Die Hinterbliebenen erleiden mit dem schrecklichen Ereignis einen schweren Schock, es kann sein, dass sie bis an die Grenze gehen, sich selbst zu gefährden, beschreibt es die Spezialistin für Trauer. Das Ritual, die Gedenkstätte am Unglücksort zu besuchen, hilft ihnen durchs weitere Leben.

Vor über 24 Jahren haben die Kieners ihren Sohn verloren. Doch die Angst um sein Kind ist aus ihrer Sicht keine gute Ratgeberin. "Kinder dürfen aus Furcht nicht in Watte gepackt und eingeengt werden. Eltern müssen sie in die Unabhängigkeit entlassen", ist Erika Kiener überzeugt. Die Eheleute setzten alles daran, auch die ältere Tochter nach dieser Maxime zu behandeln — trotz des schmerzlichen Verlustes von "Boy". Seit ihrem Studium lebt die 38-Jährige in Paris.

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