Kolumne "Hallo Nürnberg!"

Von Tauben und Menschen

Anette Röckl

NN-Redaktion Gesellschaft

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15.10.2022, 14:59 Uhr
Hat Mitleid mit Tauben, aber verzehrt ab und an Chicken McNuggets: Kolumnistin Anette Röckl.

© Foto: Edgar Pfrogner/ Montage Tina Huber/NNZ Hat Mitleid mit Tauben, aber verzehrt ab und an Chicken McNuggets: Kolumnistin Anette Röckl.

Glückliche Umstände beruhen oft auf Timing. Unglückliche auch. Die eben auf einem schlechten Timing. Wenn man ohnehin schon unter Druck ist wie ein Schnellkochtopf vorm Platzen, passt es hervorragend, wenn dann noch eine Taube gegen’s Fenster rauscht.

„Bumm“ machte es neulich bei mir während der Morgen-Konferenz im Homeoffice. Verdattert hob ich den Kopf. Auf der Terrasse saß eine dicke Taube, die verwundert und leicht schwankend zum Fenster hereinschaute – wie ein Betrunkener um sechs Uhr früh, der nicht glauben will, dass die Kneipenwirtin jetzt wirklich nichts mehr ausschenkt. „Awwaa einaa gehet doch, hicks, noch!“

Auch mir war spontan nach einem Schnaps zumute. Aber erstens war es zehn Uhr morgens und zweitens hatte ich eine Kolumne zu verfassen. Drittens musste ich dringend aus dem Haus. Ich tippte ein paar Sätze, dann lief ich wieder zur Terrasse, um zu schauen, was die Taube treibt. Sie saß und schaute ungläubig. Inzwischen auf dem Balkongeländer. Dass sie sich darauf halten konnte, wertete ich als positives Zeichen.
Ein paar Minuten später saß sie im Balkonkasten unterm Flieder. Ging es ihr gut? Brauchte sie einen Arzt? Eine Brille brauchte sie auf jeden Fall. Denn wer meine Fenster, die wirklich nicht an Überputzung leiden, nicht als Fenster erkennt, der hat eindeutig eine schwere Sehschwäche.

Patrick Süskind lässt grüßen

Was tun mit geschädigtem Gefieder auf dem Balkon? Ich rief beim Taubennotruf an. Ausgelastet. Oft erholen sie sich auch von alleine, erklärte mir eine Kollegin, eine Expertin der Tierrettung. Vielleicht hatte die Taube nur eine Gehirnerschütterung und kam von selbst wieder zu sich. Ich wünschte mir diese Variante sehr stark und stürmte aus dem Haus in die Redaktion. Dort wurde ich von der Arbeit von Tauben aller Art abgelenkt.

Ah, jetzt einfach nur Feierabend und Entspannung, dachte ich auf dem Nachhauseweg. Dann fiel mir die Taube wieder ein. Oh nein! In Patrick Süskinds Roman „Die Taube“ hatte es ganz ähnlich angefangen. Eine Taube, die auf den Balkon eines Mannes fliegt und sein Leben so durcheinanderbringt, dass er nichts mehr zustande bringt und am Ende ins Hotel zieht. Apropos, welche Unterkünfte gibt es eigentlich bei mir in der Nähe?

Sind wir nicht alle ein bisschen schizo?

Tauben! Eine Plage der Menschheit, sagen viele. Okay, aber wenn eine bei einem auf der Terrasse sitzt, wird sie ganz schnell zu dem, was sie ist: ein Tier. Und einer Katze würden wir doch auch helfen – oder einem Hund. Natürlich sind wir Menschen sowieso schizophren. „Ach Goooddala, die arme Taube, sie braucht einen Notarzt!“, klagen wir, und stärken uns hinterher mit 26 Stück Chicken McNuggets. Arme Hühnchen, übelst misshandelt und geschreddert und schön paniert, mit süßsaurer Soße kredenzt. Verdrängung ist eine feine Sache. Für uns selbst. Aber eine Taube vor der Nase (ohne Panade) lässt sich schlecht verdrängen. Mit angehaltenem Atem betrat ich meine Terrasse. Taubi saß nicht mehr unterm Flieder. Ich war erleichtert. Sie war unter die Forsythie umgezogen. Mist! Ich stellte ihr einen Snack aus Brot und Wasser hin, dann ging ich ins Bett.

Angespannt öffnete ich am nächsten Morgen die Terrassentür. Unter der Forsythie war keine Taube mehr. Auch in keinem anderen meiner Balkonkästen. Ich rief eine Freundin an. „Wenn sie zu den Nachbarn geflogen ist, ist es deren Taube“, beschloss sie pragmatisch. Aber auch dort war Taubi nicht. Auch im Hof lag kein Gefieder. Ich möchte glauben, dass Taubi sich über Nacht erholt und sich dann in die Lüfte geschwungen hat. Ihren Abdruck an meinem Balkonfenster lasse ich so – als Warnung für ihre Kollegen. Meine Fenster putze ich in Zukunft lieber nicht. Es ist einfach zu gefährlich für die Tiere.

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