Was passierte mit den 120 Jüdinnen?

7.5.2008, 00:00 Uhr
Was passierte mit den 120 Jüdinnen?

© Niklas

Vor vier Jahren startete der Englisch- und Geschichtslehrer mit Schülern der neunten Klasse am Sigena-Gymnasium ein ehrgeiziges Projekt. Man wollte herausfinden, was mit den einst 120 jüdischen Schülerinnen des damals noch als Mädchenlyzeums an der Findelgasse residierenden Gymnasiums im Dritten Reich geschehen ist. Vor einem Jahr präsentierten Hergert und seine Schüler die Ergebnisse ihrer Arbeit in dem nachhaltig beeindruckenden, hundertseitigen Memorandum lokaler Geschichte «Verfolgt, vertrieben, ermordet - Das Schicksal der Jüdinnen an einer Nürnberger Oberschule 1933-1945». Jetzt wurde das Projekt in München mit dem neu ausgelobten Wilhelm-von-PechmannPreis der evangelischen Landeskirche ausgezeichnet.

In das allgemeine Wehklagen, die aktuelle Schülergeneration sei von allem, was mit der Nazidiktatur zu tun hat, übersättigt und dafür nicht mehr empfänglich, will Hergert nicht einstimmen. «Ich bin seit elf Jahren Lehrer. Und bei allen meinen Klassen war das Interesse für das Thema überdurchschnittlich.» Auch bei dem jetzt preisgekrönten Buchprojekt ging die Initiative von den Schülern aus, erinnert er sich. «Als wir über die Verfolgung der jüdischen Bürger nach 1933 gesprochen haben, wollten sie von mir wissen, wie das an unserer Schule war.»

In den offiziellen Chroniken konnte Hergert nur einen Halbsatz finden. «1937 verließen die letzten Schülerinnen die Schule.» Das war seinen Schülern, die zu einem großen Anteil aus Migrantenfamilien stammen, wiederum nicht genug. Es folgte ein ausgiebiges Quellenstudium in den Archiven der Stadt. Aber selbst bei so mechanischen und langwierigen Aufgaben wie dem Transkribieren von Akten aus Sütterlin in moderne Schrift hätten seine Schüler ungeahnte Inbrunst entwickelt, berichtet der Pädagoge.

Die Schüler rekonstruierten die Lebensläufe der Ehemaligen. Richtige Detektivarbeit war das, erzählt Hergert. Über das «Gedenkbuch der Opfer der Shoah» konnten sie herausfinden, dass ein großer Teil der «Sigenianerinnen» den Holocaust überlebt hatte. Mit Hilfe der Ex-Vorsitzenden der Fürther Israelitischen Kultusgemeinde, Gisela Blume, und des amerikanischen Forschers Frank Harris konnten die Geschichtsdetektive viele der einstigen Schülerinnen ausfindig machen. Über 70 Briefe haben sie darauf hin in die ganze Welt versandt und mehr als 20 Antworten aus Israel, Südamerika, Afrika und Neuseeland erhalten. Auch diese Zeitzeugnisse sind in dem Buch abgedruckt.

In diesem Jahr legen die meisten Schüler aus Hergerts Projektgruppe das Abitur ab. Viele haben sich auch nach der Arbeit für das Buch, dem sie mehrere Dutzend Stunden ihrer Freizeit gewidmet haben, weiter aktiv um die Geschichte bemüht. Einer, erzählt Hergert nicht ganz ohne Stolz im Blick, habe sich bereits entschieden, Historiker zu werden.

Auch das ist für den Pädagogen ein Zeichen dafür, dass Projektgruppen wie die seine der richtige Weg für einen zukunftsfähigen Unterricht sind. «Wir Lehrer neigen oft dazu, unseren Schülern zu wenig zuzutrauen. Aber wenn wir ihnen nur vorgekautes Material anbieten, dann verliert das auch für sie an Reiz und Authentizität.»

Etwa 4 000 Euro Preisgeld soll das Sigena-Gymnasium für das Buch bekommen. Mit dem Geld will Hergert eine «Mini-Stiftung» anstoßen, die künftig ähnliche Projekte unterstützen soll. Christian Rothmund

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