Stadtarchäologe geht in Ruhestand

Wie ein Experte Nürnbergs Vergangenheit lebendig machte

25.8.2021, 17:33 Uhr
Melanie Langbein ist die neue Stadtarchäologin, John Zeitler geht jetzt in Rente.

© Michael Matejka, NNZ Melanie Langbein ist die neue Stadtarchäologin, John Zeitler geht jetzt in Rente.

Man könnte John Zeitler nachts um drei Uhr fragen, wie die Landschaft um Nürnberg zur Latene-Zeit ausgesehen hat, wie Paternoster-Perlen geschnitzt wurden oder woran man eine Tonscherbe aus dem 13. Jahrhundert erkennt: Der Experte müsste dazu gar nicht aufwachen, sondern würde die Fragen routiniert im Halbschaf beantworten. Er ist eben ein Vollblut-Archäologe.

Als er 1999 das Amt des Stadtarchäologen antrat, war das nicht nur für ihn Neuland. Die Stelle wurde gerade erst geschaffen und auch sein Chef konnte sich nicht so recht vorstellen, was Zeitler eigentlich tun sollte: "Verfassen Sie doch bitte erst einmal Ihre Arbeitsplatzbeschreibung", bat er daher.

Ordner mit Aufschrift "Alter Krempel"

Alles, was Zeitler in der Verwaltung zu seinem neuen Job vorfand, war ein einziger Ordner mit der Aufschrift: "Alter Krempel, Archäologie". Er musste sich seine Arbeitsstruktur selbst schaffen.


Was man im Knoblauchsland vor 3000 Jahren gegessen hat


Die Vergangenheit Nürnbergs hat in den vergangenen Jahren eine immer größere Bedeutung gewonnen: Es geht nicht nur um den Nationalsozialismus, die goldene Ära im 15. und 16. Jahrhundert oder das Mittelalter, sondern auch um Bronze- oder Urnenfelderzeit. Das Interesse an früheren Epochen ist deutlich gestiegen: Wenn man schon nicht die Zukunft voraussagen kann, so lassen sich zumindest Antworten finden, wie man in der Vergangenheit gelebt hat.

Bei Bauprojekten ist der Bauherr gesetzlich verpflichtet, zunächst Archäologen den Untergrund nach geschichtsträchtigen Spuren absuchen lassen. 620 Grabungen im Bereich der Altstadt, aber auch im Knoblauchsland oder Herpersdorf hat Zeitler in seiner 22-jährigen Amtszeit begleitet, die jetzt zu Ende geht.

Große Begabung

Der gebürtige Nürnberger empfindet Erleichterung, dass die damit verbundene Bürokratie für ihn wegfällt. Er will in der Geschichtsforschung aktiv bleiben - aber eben in seiner Freizeit. Seine große Begabung: Zeitler kann aus unansehnlichen Tonscherben, Glasresten und rostigen Eisenstücken ein Bild des Alltagslebens im Spätmittelalter entstehen lassen.

Und der Experte stellt nicht nur fest, dass ein Männerskelett aus dem 16. Jahrhundert stammt, sondern dass es sich wegen stark abgenutzter Knochen und schlechtem Gebiss um einen körperlich schwer arbeitenden Handwerker gehandelt haben muss, der auch unter Mangelernährung litt. John Zeitler kommt dabei nicht ins Phantasieren, seine Aussagen kann er mit genauer Beobachtung, Vergleichen und jahrzehntelanger Erfahrung belegen.

Stadtarchäologe John Zeitler setzt keramische Bruchstücke wie ein Puzzle zusammen.

Stadtarchäologe John Zeitler setzt keramische Bruchstücke wie ein Puzzle zusammen. © Roland Fengler, NNZ

Durch seine plastischen Erzählungen ist er ein Glücksfall für Geschichtsinteressierte. Er hat viele Leserinnen und Leser dieser Zeitung sowie User im Internet an seinen Erkenntnissen teilhaben lassen. Dadurch wuchs das allgemeine Verständnis für die Nürnberger Stadtarchäologie, freut sich der Experte: "Ich habe in den letzten Jahren kaum böse Briefe bekommen wie Kollegen in anderen Landkreisen. Hier hat sich durch die Presseveröffentlichungen ein Bewusstsein für den Wert der Archäologie gebildet."

Höhepunkt seiner Arbeit

Auch wenn es für Bauherrn manchmal durchaus schmerzhaft war: Der Neubau der Industrie- und Handelskammer beispielsweise hat sich durch spektakuläre Funde um ein Jahr verzögert und wurde deutlich teurer.

Für Zeitler war die Datierung von Scherben aus dem neunten Jahrhundert auf dem IHK-Gelände ein Höhepunkt seiner Arbeit: Damit konnte er den Nachweis für die Besiedlung Nürnbergs um gut 100 Jahre zurückverlegen. "Bisher hatte man ein völlig falsches Bild, das heute noch die Geschichtsbücher beherrscht", führt der Wissenschaftler aus, "man dachte, dass die erste Besiedlung durch Franken erfolgte. Jetzt wissen wir, dass es slawische Stämme waren."

Die Geschichtsschreibung musste durch die unauffälligen Scherben noch weiter revidiert werden: Nürnberg wurde nicht von der Burg aus den Berg hinunter erschlossen, wie man bisher dachte, sondern umgekehrt. Die Siedler bevölkerten zunächst das Gebiet in der Nähe der Pegnitz und bebauten später den gewaltigen Sandsteinfelsen, auf dem heute die Burg thront.

Ein Krimi-Liebhaber

Für Zeitler und die Archäologie waren dies spannende Erkenntnisse. Er wird auch weiter wissenschaftlich forschen, aber nicht nur: "Das allein wäre zu eintönig. Ich pflege unseren Garten. Und außerdem: Ich lese gerne britische Krimis." Sein Leben bleibt also aufregend.

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