Klingenhof
Wunderkammer in historischen Hallen
9.6.2021, 09:44 UhrWir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Das spürt man gerade in unserer Baukultur, in der alte Substanz fast so eilfertig für Neues entsorgt wird wie eine Spülmaschine mit verstopftem Abfluss oder ein Saugroboter mit abgenutzten Bürsten. Da ist es schön zu sehen, dass es auch anders geht, und das ganz ohne Auflagen des Denkmalschutzes.
Auch die Holzfenster blieben erhalten
Als Claus Merk und seine Familie 2009 das Areal der früheren Firma Schlee in der Klingenhofstraße 51 übernahmen, fassten sie den Entschluss, die alten Hallen (mit Ausnahme der Kantine) nicht abzureißen, sondern zu restaurieren. Merks Tochter Christine Cameron ist das "Gwerch" mit den alten Holzfenstern, das Abschaben und Neuaufbringen des Kitts, das Abschleifen und Lackieren der Rahmen, aber auch der Stolz auf das wunderbare Ergebnis in bester Erinnerung. Seit 2011 zeigt Merks Motor Museum in den historischen Bauten Autos, Motorräder (viele davon aus Nürnberger Fertigung), Kameras und vieles mehr, was die Merks seit den 1970er Jahren zusammengetragen haben.
Die Anfänge der Firma Schlee liegen im Stadtteil Neugroßreuth: 1913 gründete Johann Schlee auf dem Grundstück Am Stadtpark 117/119 eine Zimmerei und Bauschreinerei mit Säge- und Hobelwerk. Der beengten Verhältnisse wegen erwarben die Schlees kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs eine große Parzelle draußen vor der Stadt in Klingenhof. Damals herrschte dort eine rege Bautätigkeit: Als rüstungsrelevanter Betrieb stampften die Kabel- und Metallwerke Fritz Neumeyer gewaltige Werkhallen, Bunker und Baracken aus dem Boden, in denen bis 1945 KZ-Insassen und Zwangsarbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen für den Wahn des "Großdeutschen Reiches" schuften mussten.
Im Gegensatz zu Neumeyer konnten die Schlees ihr Bauvorhaben – Büro, Lager- und Abbindehalle – zunächst nicht umsetzen. Erst 1954/1955 zog man die Gebäude, ergänzt durch eine Kantine, nach Plänen des Ingenieurs Max Griesmeier in die Höhe. Während die Baufirma Fritz Hähnlein die Maurerarbeiten übernahm, fertigten die Schlees und ihre Mitarbeiter Dachstühle, Fenster und Einrichtung selbst. 1998 schloss der Betrieb, und die Schlees wandten sich dem Immobilienwesen zu.
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Komplettes Büro im Stil der 50er-Jahre
Der Genius Loci des Industriegebietes Klingenhof, wo einst auch Motorräder hergestellt wurden, aber auch Typologie, Funktion und Architektur der Hallen und der inhaltliche wie zeitliche Zuschnitt der Sammlungen ergänzen sich kongenial: Hier stehen Fahrzeuge, Krads, Telefone, Lebkuchendosen und viele weitere Zeugnisse der Technik und des Produktdesigns der 1890er bis 1990er Jahre in lichtdurchfluteten, hellen Industriehallen. Teile des Interieurs, darunter das fast völlig im Stil der 1950er Jahre gestaltete Meisterbüro, blieben inklusive Einrichtung aus Schlee’scher Eigenproduktion erhalten. Und auch sonst beließen es die Merks vornehmlich beim Reparieren und vorsichtigen Ergänzungen.
Dabei unterscheidet sich die Sammlung Merk wohltuend von den derzeit populären puristischen musealen Darbietungen: Hier stehen die Exponate teils dicht an dicht wie in den fürstlichen Wunderkammern der Renaissance und des Barock. Das erschwert es hin und wieder, ein Objekt von allen Seiten zu betrachten, erleichtert aber den Vergleich mit den umstehenden Exponaten und weckt überhaupt die Lust am Entdecken, Stöbern und Lernen. Es ist ein wenig so, als dürfe man zum ersten Mal in der Spielzeugkiste des besten Freundes wühlen – nur ohne Antatschen und Ausprobieren, versteht sich.
Für Denkmalpfleger zählt nicht allein die Seltenheit
Mit Merks Motor Museum sind Nürnberg gleich zwei Schätze erhalten geblieben: eine riesige und äußerst vielfältige Sammlung technischer Errungenschaften und Industriedesigns aus über einem Jahrhundert – und ein Stück historischer Industriebau der Nachkriegsjahre.
Der Erhalt der Werkhallen ist privater Denkmalschutz mit Weitblick. "Is doch nix B’sondres! Is doch ned schee!", wird manch einer einwenden.
Doch für die Denkmalpflege zählen nicht subjektiver Geschmack und auch nicht unbedingt Seltenheit, sondern, ob ein Objekt etwas über die Baukunst und Lebenswelt seiner Entstehungszeit aussagt. Und das tun die Hallen. Außerdem lehrt die Erfahrung, dass die Fraktion derer, die da sagen, dass es hiervon und davon noch mehr als genug gebe, immer, aber auch wirklich immer rascher als erwartet vom Wandel der Zeit eingeholt wird – bis von der einstigen Massenware fast nichts mehr da ist. Das ist bei Bauwerken so wie bei Schreibmaschinen, Lebkuchendosen und Autos.
Wenn Sie Merks Motor Museum und seine Sammlungen besichtigen möchten, können Sie dies Do–So, 10–17 Uhr tun. Eintritt: 7 bzw. ermäßigt 5 Euro, weitere Informationen unter: www.merks-motor-museum.de
Liebe NZ-Leser, haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Zeitung, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: nz-themen@pressenetz.de
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