Als in Roth die Schlote wieder zu qualmen begannen...

31.5.2020, 13:03 Uhr
Als in Roth die Schlote wieder zu qualmen begannen...

Neben der Heizproblematik beschäftigte die Stadtverwaltung auch der Mangel an Winterkleidung in der Bevölkerung. Das Umfärben und Abändern von Soldatenuniformen in zivile Kleidungsstücke sollte die Lage verbessern. Allerdings war es nicht einfach, die dafür benötigte Seife und das entsprechende Heizmaterial aufzutreiben.

Solche von der Stadt initiierten Maßnahmen waren umso wichtiger, als das Wirtschaftsleben in der ersten Nachkriegszeit nur sehr langsam in Schwung kam. Zu den Rother Kaufleuten, die in Zeiten der Not die Ärmel hochkrempelten, zählte auch Rudolf Wöhrl. Er eröffnete 1945 im Stadtzentrum ein Bekleidungsgeschäft und zauberte aus Restbeständen der Wehrmacht für jedermann erschwingliche Kleidungsstücke. Mit der Zeit wurde der Name "Wöhrl" weit über Roth hinaus zum Synonym für bezahlbare Markenkleidung.

Beispielhaft für unternehmerische Weitsicht war aber auch das Wirken der maßgeblichen Führungskräfte in den Rother Industriebetrieben, die sich vor allem in den ersten Monaten nach Kriegsende vor große Herausforderungen gestellt sahen. Zwar hatte die amerikanische Militärregierung relativ schnell grünes Licht zur Wiederaufnahme der Produktion gegeben, konnte aber nicht gewährleisten, dass das benötigte Rohmaterial zur Verfügung stand. Zudem litt die Industrie in dieser Zeit unter den häufigen Stromsperren. Nur wenige Unternehmen verfügten über Notstromaggregate. Der Druckerei Karl Müller allerdings stand ein Dieselaggregat zur Verfügung, was die kontinuierliche Herausgabe des Rother Amtsblattes sicherstellte.

Trotz der Anlaufschwierigkeiten bei den einheimischen Industriebetrieben hielt sich nach dem Krieg in Roth die Arbeitslosigkeit in Grenzen. Alleine die Amerikaner hatten zwischen 500 und 600 Einheimische für ihre Einrichtungen am Flugplatz eingestellt. Zudem benötigte die Stadt für die Wiederherstellung der in der Nacht vor dem Einmarsch der Amerikaner gesprengten Brückenbauwerke (wir berichteten) zahlreiche Handwerker und Arbeiter.

Als bei den Rother Industriebetrieben die Phase des Rohstoffmangels endete und die für das Stadtbild charakteristischen Schlote wieder Tag und Nacht zu qualmen begannen, herrschte an gut dotierten Arbeitsplätzen kein Mangel mehr. An der Spitze der großen Rother Betriebe standen Männer wie Georg Thoma, Otto Schrimpff, Ernst Supf oder August Zink (um nur einige Namen zu nennen), deren Fürsorge nicht nur den eigenen Interessen galt. Entsprechend ausgeprägt war die Leistungsbereitschaft in den Werkshallen und Büros. Die Leonischen Drahtwerke und die Bayerischen Kabelwerke (1945 eines der ganz wenigen intakten Kabelwerke im Nachkriegsdeutschland) hatten in der Zeit des Wiederaufbaus eine Schlüsselstellung. In ganz Deutschland wurden Stromkabel aus Roth verlegt.

Als in Roth die Schlote wieder zu qualmen begannen...

© Foto: Archiv Leonische Drahtwerke

Bei den Leonischen Drahtwerken überstieg die Zahl der Mitarbeiter bereits in den 50er-Jahren die Tausendergrenze. Bei der Bayka standen nach der Währungsreform (1948) immerhin rund 500 Männer und Frauen in Lohn und Brot, die Filzfabrik und die Vereinigten Staniolfabriken beschäftigten jeweils über 300 Mitarbeiter. Die Traditionsfirma Speck-Pumpen in der Gartenstraße spielte gleichfalls eine wichtige Rolle beim örtlichen Wirtschaftswunder nach dem Krieg. Heute genießt Speck ("Pumpen und Antriebe für hohe Ansprüche") in vielen Bereichen weltweit ein hohes Ansehen.

Die für Roth traditionelle Herstellung von Christbaumschmuck lief nach dem Krieg ebenfalls schnell wieder auf vollen Touren. Nicht wenige Rother Familien nutzten dabei die Gelegenheit zur Heimarbeit. Anfänglich holte man den so genannten "Plätt" noch mit dem hölzernen Leiterwagen in den Fabriken ab und lieferte den fertigen Christbaumschmuck auch so zurück. Die Aufwärtstendenzen bei den vielen Produkten, die in Roth hergestellt wurden, spiegelte sich auch an den Ständen der Fachmessen ab. In Nürnberg beispielsweise stellten 1961 gleichzeitig Riffelmacher & Weinberger, Heinrich Deubel, Friedrich Ley, Lorenz Stadelmann, Michael Gimpl, Fritz Stadelmann, Karlman Kutschka und die Firma Schlenk aus Barnsdorf ihre Erzeugnisse aus. Was die Rother Industrie, die Christbaumschmuckfertigung und Mittelstandsbetriebe wie beispielsweise der von Albert Heid (Holzspulen und Spielzeug) in der Gartenstraße, gleichermaßen auszeichnete, war die Identifikation mit ihrem Standort. Sie bemühten sich beinahe ausnahmslos nicht nur um das eigene Fortkommen, sondern auch um das Wohl und Wehe jener Menschen, die für sie arbeiteten.

In der Reihe der Rother Christbaumschmuckfabriken war die Firma Riffelmacher & Weinberger eine der jüngsten Betriebe. Heute ist sie (2020) der letzte noch in Roth produzierende Hersteller von Christbaumschmuck. 1921 begann Riffelmacher & Weinberger in zwei Rückgebäuden des Anwesens Kugelbühlstraße 32 mit der Herstellung von Lametta-Girlanden. Während des Zweiten Weltkrieges waren deren Herstellung sogar als kriegswichtig eingestuft. Die Soldaten sollten in fernen Landen Weihnachten feiern können, wie in der Heimat. In den letzten Kriegstagen wurde durch eine Brandbombe ein Teil des Betriebsgebäudes in der Kugelbühlstraße zerstört. Es konnte jedoch kurzfristig wiederaufgebaut werden und erhielt zudem ein zusätzliches Stockwerk. Fünf Jahre nach Kriegsende zählte die Firma Riffelmacher & Weinberger dann zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Spielwarenmesse Nürnberg.

Wie Riffelmacher & Weinberger wurde auch bei der Firma Fritz Stadelmann während des Zweiten Weltkrieges Christbaumschmuck produziert. Allerdings musste auf Ersatzmaterialien ausgewichen werden. Verzinkter Eisen-Plättdraht statt versilberter Kupfer-Plättdraht ließ den Christbaumbehang lange nicht so glänzen wie vor dem Krieg. Als die Firma Fritz Stadelmann 1949 ihr 50-jähriges Jubiläum feierte, war eine Mitarbeiterin mit von der Partie, die im Buch "Glanz & Glitzer" eine für die Nachkriegszeit in Roth bezeichnende Situation so beschrieb: "Wir sind als Vertriebene nach Roth gekommen. Also habe ich 1945 mit 32 Pfennig Stundenlohn bei der Firma Fritz Stadelmann angefangen. Mit 14 bin ich gekommen und bin 45 Jahre geblieben. Zum 50. Betriebsjubiläum 1949 waren die Hälfte der 52 Beschäftigten Vertriebene, meist Frauen".

Wie bei Stadelmann spielte in der Rother Arbeitswelt der Nachkriegsjahre allgemein der familiäre Charakter eine wichtige Rolle. Dass der Vater seinen Arbeitsplatz an den Sohn "vererbte", war in Rother Werkshallen gang und gäbe. Man wusste, wie wertvoll ein guter Job in vertrauter Umgebung war.

Eine besondere Erfolgsgeschichte schrieb der aus Gablonz vertriebene Exportkaufmann Karlmann Kutschka. Er gründete in Roth mit Facharbeitern aus der Schmuckwarenindustrie seiner Heimat eine Fabrikation von Schmuckwaren nach Gablonzer Art. Zeitweise arbeiteten über 100 Personen bei Kutschka. Der Firma Greilich aus Alexandrof bei Lodz gelang in Roth ebenfalls der Neustart. In ihrer alten Heimat hatte es die Firma mit einer der ersten mechanischen Strumpffabriken geschafft, Agenturen von Moskau bis Odessea aufzubauen. Selbst am Petersburger Zarenhof trug man Strümpfe von Greilich. In Roth produzierte die Firma Greilich ihre Strümpfe in einem selbst erbauten Fabrikgebäude.

Die aus dem Erzgebirge stammende Metallwarenfabrik Rudolph wiederum stellte am neuen Standort in Roth Kohlenschütten, Brikettträger, Ofenschirme und Aluminiumgeschirr her. Die Firma Celluloidwaren Schmitt, die bereits in den 1930er-Jahren nach der Insolvenz der Firma August Schlemmer vom Werksschlosser Wilhelm Schmidt gegründet worden war, produzierte nach dem Krieg Haushaltswaren, Taschenspiegel und Kinderspielsachen.

Dass eine Reihe von Firmen, die Roth nach dem Krieg einen beachtlichen Aufschwung beschert hatten, längst Geschichte sind, ist dem Konzentrationsprozess zuzuschreiben, der nahezu alle Wirtschaftszweige betraf. Als weltweit tätige Konzerne ihre Fühler auch nach mittelständischen Unternehmen ausstreckten, standen selbst Arbeitsplätze zur Disposition, die langfristig Sicherheit versprochen hatten. Beispielhaft dafür ist der Niedergang der Vereinigten Staniolfabriken (VAW), die im letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende zum Spielball verschiedener Konzerne wurde. Die Produktionsverlagerung in ein Billiglohnland machte einem Traditions-Unternehmen den Garaus, das einst durch seine Innovationskraft Geschichte schrieb. 28 Jahre zuvor standen schon bei der Alex Zink Filzfabrik AG sowie der Ozite-Vertriebs GmbH die Maschinen still. Die 1878 gegründete Firma musste am 13. Dezember 1973 Konkurs anmelden. Zum Glück zählen Unternehmen wie Leoni, Bayka oder Speck auch heute noch zu den Aushängeschildern Rother Industriegeschichte. Mit dem Strukturwandel der Wirtschaft gingen auch optische Veränderungen einher. In Roth qualmen heute längst keine Schornsteine mehr. Geblieben sind jedoch jene Tugenden, die nach dem Krieg Bürgermeister Heinrich Pürner pauschal den Rother Unternehmern bescheinigte: Organisationstalent, Branchenkenntnis, abwägender Kaufmannsgeist und kommerzielle Weitsicht.

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