Was trieb den Täter an?

Angst vor Geiselnahme, Verwirrung, Zugriff: So lief der SEK-Einsatz auf der A9

22.9.2021, 15:00 Uhr
Das Spezialeinsatzkommando positionierte sich in sicherer Entfernung zu dem Bus, um eine Kurzschlussreaktion des Verdächtigen zu verhindern. 

© Vifogra/Goppelt Das Spezialeinsatzkommando positionierte sich in sicherer Entfernung zu dem Bus, um eine Kurzschlussreaktion des Verdächtigen zu verhindern. 

17 Uhr: In einem Reisebus, der über die A9 auf dem Weg nach Serbien ist, kommt es plötzlich zu einem Streit. Ein 30 Jahre alter Mann packt einen vor ihm schlafenden 20-Jährigen und schleudert ihn auf den Boden, tritt ihm mehrmals mit den Füßen gegen den Kopf. Scheinbar völlig grundlos, das zumindest ist der aktuelle Stand der Ermittlungen. Einer jungen Frau schlägt der Serbe ins Gesicht, nachdem die versucht hatte zu schlichten. Der Mann droht den Mitreisenden immer wieder mit dem Tod, schreit, pöbelt. Die Polizei spricht von "wirren Gedanken", die er lautstark geäußert habe. Warum, ist völlig unklar.

17 Uhr + X: Einer der insgesamt drei Fahrer parkt auf dem Standstreifen der Autobahn bei Hilpoltstein. Eine Frau, die im Inneren des Busses sitzt, alarmiert die Polizei. Sie will auch eine Schusswaffe gesehen haben. Die elf Fahrgäste verlassen schnell den Bus, warten auf dem Standstreifen. Derweil kommen erste Streifen der Feuchter Verkehrspolizei an den Tatort. Für sie ist die Lage unübersichtlich, auch deshalb werden speziell geschulte Verhandlungsführer sowie das Spezialeinsatzkommando angefordert. "Eine Geiselnahme war nicht ausgeschlossen", erklärt Michael Konrad, Sprecher des Präsidium Mittefranken. "Deshalb wollte man kein Risiko eingehen." Ein Großaufgebot positioniert sich etwa 500 Meter von dem Bus entfernt auf der Autobahn, die mittlerweile komplett gesperrt ist. Auch die ICE-Strecke zwischen Nürnberg und München, einer Hauptverkehrsader zwischen Norden und Süden, wird stillgelegt. Hunderte Bahn-Pendler und Autofahrer müssen warten.

18 Uhr: Die Spezialeinheiten positionieren sich in sicherem Abstand zu dem Bus, sie sind schwer bewaffnet und maskiert. "Es war schwierig, sich dem Bus anzunähern", erklärt Polizeisprecher Konrad. "Wir mussten verhindern, dass es zu einer Kurzschlussreaktion des Täters kommt." Noch immer ist die Lage unübersichtlich. Ein Helikopter steht über der A9. Mit einer Wärmebildkamera will die Polizei Gewissheit darüber, wie viele Menschen noch in dem Bus sind. Neben dem Täter bleiben die drei Fahrer im Inneren. Warum? Das ist über Stunden unklar. Die Polizei hält es für möglich, dass sie gewaltsam festgehalten werden.

Die Fahrgäste, die den Bus selbstständig verlassen haben, werden von Notfallseelsorgern betreut. Einige stehen unter Schock, äußerlich blieben sie aber unverletzt.

19 Uhr: Die Sperrung der Autobahn dauert an, schon etwa ab Biebelried in Unterfranken warnt die Polizei vor den Staus auf der A9. Verhandlungsführer versuchen Kontakt zu dem Verdächtigen aufzunehmen, die Sprachbarriere verhindert das aber. Der Mann spricht kein Deutsch. Auch für die erfahrenen Einsatzkräfte ist es eine Nervenschlacht, noch immer kann eine Geiselnahme nicht ausgeschlossen werden, noch immer ist unklar, ob der Serbe bewaffnet ist.

Gegen 21 Uhr: Ein Polizist, der Serbisch spricht, kann per Handy Kontakt zu den Busfahrern aufnehmen. Sie haben sich "mehr oder weniger freiwillig" im Inneren aufgehalten, wird Polizeisprecher Konrad am Tag danach erklären. Warum, ist unklar. Eine Geiselnahme ist damit ausgeschlossen, der Mann verlässt den Reisebus aber weiterhin nicht. Stattdessen gehen die Fahrer. Der 30-Jährige ist nun alleine in dem Bus.

21.25 Uhr: Donnerschläge hallen über die A9 bei Hilpoltstein, Blitze zucken auf. Mit einem verdunkelten Fahrzeug rückten Kräfte des Spezialeinsatzkommandos vor. Sie umstellen den Bus, nehmen den 30-Jährigen widerstandslos fest. Der Mann bleibt dabei unverletzt.

21.30 Uhr: Erleichterung an der A9. Die ICE-Strecke wird wieder freigegeben, die Autobahn bleibt aber noch komplett gesperrt. Polizisten durchkämmen den Bus, durchsuchen den Tatverdächtigen, sein Gepäck sowie die Koffer der elf Mitreisenden. Im Fokus: die Schusswaffe, die eine Frau gesehen haben will. Finden werden die Beamten nichts. Der Mann sei weder alkoholisiert gewesen noch habe er unter Drogeneinfluss gestanden. Trotzdem wird sicherheitshalber sein Blut entnommen. War er psychisch verwirrt? Das wird derzeit noch geklärt. Aus dem Präsidium Mittelfranken heißt es: "Er hat wirre Aussagen gemacht, darauf wird jetzt ein Augenmerk bei den Ermittlungen liegen."

Die zwei Mitfahrer, die der Serbe offenbar grundlos attackierte, werden medizinisch behandelt. Der 20-Jährige, dem der Verdächtige mehrmals gegen den Kopf trat, kann das Krankenhaus schnell wieder verlassen. "Schwerste Verletzungen können wir ausschließen", sagt der Polizeisprecher. Die 24-Jährige kommt ebenfalls mit leichteren Blessuren davon.

2 Uhr am Mittwoch: Die Polizei beendet die Spurensicherung. Noch immer wurde keine Waffe gefunden, noch immer gibt es keine Hinweise auf eine tatsächliche Geiselnahme. "Die liegt dann vor, wenn jemand mit Gewalt oder per Drohung seiner Freiheit beraumt wird", erklärt Konrad. "Das berühmteste Beispiel ist der Täter, der in einer Bank jemandem das Messer an den Hals hält und freies Geleit fordert." Genau das habe aber in diesem Fall nicht vorgelegen. Die rechtliche Definition einer Geiselnahme können Sie hier nachlesen.

Die Nacht auf Mittwoch: Die Polizei vernimmt in mühevoller Kleinstarbeit insgesamt 13 Zeugen, darunter auch die Mitfahrer des Verdächtigen. "Größtenteils mit Dolmetschern", wie Konrad erklärt, denn viele von ihnen sprechen kein Deutsch. Mit dem Verdächtigen selbst sprechen die Ermittler nicht, sie dürfen es aus rechtlichen Gründen nicht. Ihm fehlt bislang juristischer Beistand.

Die Reisenden werden nach der Vernehmung in einem Hotel untergebracht. Sie sollen mit einem Ersatzbus die Weiterfahrt nach Belgrad antreten - allerdings mit einem Ersatzfahrzeug. Der Bus bleibt vorerst bei der Polizei in Franken. "Wir können den Tatort nicht nach Serbien weiterfahren lassen", sagt Konrad.

Mittwochvormittag: Der Serbe wird einem Ermittlungsrichter vorgeführt. Er soll entscheiden, ob der Mann in Untersuchungshaft kommt oder womöglich in einer psychiatrischen Einrichtungen untergebracht werden muss. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth wegen des Verdachts des versuchten Totschlags.

Mittwochmittag: Der 30-jährige Tatverdächtige wurde am Dienstagmittag auf Antrag der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth dem Ermittlungsrichter vorgeführt. Der serbische Staatsangehörige machte von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Nach Einschätzung eines Sachverständigen ist nicht auszuschließen, dass sich der 30-Jährige in einem psychischen Ausnahmezustand befindet. Deshalb wurde der Verdächtige auf Anordnung des Ermittlungsrichters in einer Fachklinik untergebracht. Ermittelt wird gegen ihn nun wegen versuchtem Mord.

Der Artikel wurde am 22. September 2021 um 15 Uhr aktualisiert.