Corona-Jahr 2020: Gesundheitsamts-Chef zieht Bilanz

1.1.2021, 06:00 Uhr
Corona-Jahr 2020: Gesundheitsamts-Chef zieht Bilanz

© Archiv-Foto: Tobias Tschapka

Wer nach "Menschen des Jahres 2020" sucht, der bleibt fast unwillkürlich bei Dr. Stefan Schmitzer hängen. Dass der Allersberger vor zweieinhalb Jahren die Leitung des Gesundheitsamtes Roth-Schwabach übernommen hat, fiel seinerzeit nur einem Fachpublikum auf. Gesundheitsamt? Das waren doch die, die sich um die Schuleingangsuntersuchungen kümmerten, an den Masern-Impfschutz erinnerten und im Frühjahr vor Zecken warnten.

Zweieinhalb Jahre und eine weltumspannende Pandemie später kommt es plötzlich wieder auf den öffentlichen Gesundheitsdienst an. Er soll und muss einen wesentlichen Beitrag leisten, damit die Corona-Krise beherrschbar bleibt.

Herr Dr. Schmitzer, fangen wir doch mal bei Ihnen an. Wann hatten Sie das letzte freie Wochenende?

Im Februar. Im August war ich mit meiner Frau ein paar Tage im Urlaub. Aber da hatte ich den Rechner dabei und habe jeden Tag mit dem Amt mehrfach telefoniert. Aber ganz ehrlich: Ich bin hier nicht wichtig. Ich wäre nichts ohne meine Mitarbeiter.

 

Deren Zahl hat deutlich zugenommen. Vor Corona waren es rund 30, inzwischen sind es rund dreimal so viele ...

...Warten Sie kurz (ruft seinen E-Mail-Verteiler auf seinem Rechner auf, Anm. d. Red.). Es sind jetzt 124. Sie sind es, die den Laden am Laufen halten, nicht ich.

 

Klingt nach einem Sonderlob vom Chef.

Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Eines samstags um 23 Uhr reißt mich eine WhatsApp aus meinem Fernsehschlaf. Eine meiner Mitarbeiterinnen hatte eine Idee, wie man die Arbeitsprozesse verbessern kann. Sie schlägt, obwohl sie keinen Sonntagsdienst hat, ein Treffen im Amt am Sonntag vor. Hintergrund: Wenn ich die Idee für gut befinde, könnte man ohne jede Verzögerung am Montag starten.

Das ist nur ein Beispiel von vielen. Jeder meiner Leute gibt alles. Die Contact-Tracer, die sich auf die oft mühsame Suche nach Kontaktpersonen von Infizierten machen; die Leute an der Hotline, die sich manches anhören und immer wieder deeskalieren müssen; die Mitarbeiter, die immer wieder neue Kräfte anlernen. Ich vertraue meinen Leuten zu 100 Prozent. Es macht mich zufrieden, wenn ich sehe, dass es läuft. Dann stört es mich auch nicht so, dass Freizeit derzeit ein so wertvolles wie seltenes Gut ist.

 

Ab wann haben Sie eigentlich geahnt, dass mit Corona etwas wirklich Großes auf uns zurollt?

Das hat schon ein wenig gedauert. Als ich im Januar die Bilder aus Wuhan gesehen habe, wo die Chinesen eine Millionenstadt abgeriegelt haben, da habe ich zu meiner Frau gesagt, so etwas wäre bei uns unmöglich. Wenig später wurde in Heinsberg und in Tirschenreuth aufgrund der explodierenden Infektionszahlen nach genau dem gleichen Muster gehandelt. Wir hatten in Schwabach den ersten Corona-Fall am 1. März. Auch da war es für mich unvorstellbar, dass der Rest des Jahres so werden würde wie er geworden ist. Erst mit dem bundesweiten Lockdown Mitte März begann ich zu ahnen, dass wir es hier mit etwas zu tun haben, das uns noch lange beschäftigen wird.

 

Was macht Corona so gefährlich?

Das Virus ist sehr leicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Und es ist seine vermeintliche Harmlosigkeit. Es bringt nur vergleichsweise wenige seiner Wirte um. Und kann deshalb überleben. Das Gegenbeispiel ist Ebola. Das Virus ist so tödlich, dass es sich gewissermaßen nach kurzer Zeit immer selbst ausmerzt.

 

Waren die deutschen, waren die bayerischen, war Ihr Gesundheitsamt auf eine Pandemie vorbereitet?

Ehrlich gesagt nein. Jeder hatte Pandemiepläne in der Schublade. Aber die ersten Corona-Wellen durch SARS und MERS hatten wir ja vergleichsweise schnell in den Griff bekommen. Weltweite Pandemie? Das war doch lange Zeit eine eher theoretische, ja eine akademische Diskussion.

 

Wenn man manche Berichte über den öffentlichen Gesundheitsdienst liest, dann hat man immer noch den Eindruck, dass eine Pandemie des 21. Jahrhunderts mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts bekämpft wird. Also mit einer Zettelwirtschaft und mit dem Hin- und Herfaxen von Daten.

Die Vorwürfe sind zum Teil berechtigt. Auf solche Fallzahlen, wie wir sie jetzt bei Corona haben, waren die Gesundheitsämter nicht vorbereitet. Ich kann mich noch an unseren ersten Fall erinnern. Da haben wir den Index (die positiv getestete Person, Anm. d. Red.) in eine Excel-Tabelle eingetragen und fünf Kontaktpersonen dazugeschrieben. Vom LGL oder dem Ministerium gab es nullkommanull Vorgaben. Deshalb hat jedes Gesundheitsamt selbst angefangen, seine eigene Datenbank aufzubauen. Aber es ist halt so, dass es aus diesem Grund keinen digitalen Austausch zu den anderen Ämtern gibt. Wenn ich also einen Fall in Wendelstein habe und eine Kontaktperson in Feucht, dann läuft das tatsächlich so, dass ich die Kollegen im Nürnberger Land mit einem digitalisierten Fax informieren muss. Auch die Labore melden die positiven Fälle bis jetzt immer noch per elektronischem Fax zu uns.

 

Aber das Ministerium hat doch auch für die Gesundheitsämter längst eine Digitaloffensive angekündigt.

Stimmt schon. "SORMAS" heißt die neue Software. Sie soll Mitte Januar eingeführt werden, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle. So etwas neu einzuführen, ist schon in Friedenszeiten eine Herausforderung. Jetzt ist der Zeitpunkt, ich formuliere mal vorsichtig, suboptimal.

 

Was wird durch SORMAS besser?

Wenn es läuft, können wir vielleicht wirklich Zusammenhänge von Ausbrüchen schneller erkennen und Infektionsketten früher unterbrechen. Wir holen also im Kampf gegen das Virus auf.

 

Apropos zweite Welle: Hat Sie die Wucht dieser zweiten Welle, vor der Virologen schon im Frühjahr gewarnt haben, überrascht?

Ganz ehrlich? Ja, die Wucht überrascht mich. Wir bekamen im Sommer drei zusätzliche Leute vom RKI, welche die Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen sollten. Aber wir hatten da höchstens einen oder zwei Fälle pro Woche. Ich wusste gar nicht, wie ich die Leute beschäftigen sollte. Ich erinnere mich noch an die Diskussionen, die wir im Herbst beim Inzidenz-Signalwert von 35 und beim Inzidenz-Schwellenwert von 50 geführt haben. Ob es auch schon in der Grundschule Maskenpflicht geben sollte. Ob man wirklich dieses oder jenes einschränken müsste. Im Rückblick müssen wir sagen, dass all diese Diskussionen viel zu kurz gegriffen haben. Von einer Inzidenzzahl 35 kann man derzeit doch nur träumen.

 

Weil die Leute einfach müde sind, sich an immer neue Corona-Auflagen, an immer neue Einschränkungen halten zu müssen?

Ich weiß, das ist nicht leicht. Ich sage es mal flapsig: Hier im Amt haben auch alle von Corona die Schnauze voll. Sie machen trotzdem weiter, immer weiter. Und auch die ganz überwiegende Zahl an Infizierten und Kontaktpersonen hält sich an die Quarantäne-Auflagen. Aber es ist schwer, die Lage in den Griff zu bekommen. Anders als im Frühjahr ist das Virus viel weiter in der Bevölkerung verbreitet.

 

Wie geht es weiter mit der Pandemie?

Derzeit gehen die Infektionszahlen zumindest leicht zurück. Vermutlich eine Folge des vergleichsweise harten Lockdowns seit 16. Dezember. Wir werden es mit den jetzigen Maßnahmen aber nicht schaffen, wieder an eine durchschnittliche Inzidenz von 50 heranzukommen. Deshalb gibt es zwei Alternativen: Wir verschärfen die Maßnahmen noch weiter, bis das Land die Corona-Lage völlig unter Kontrolle hat. Oder wir retten uns mit mal leichteren, mal schwereren Einschränkungen auf dem jetzigen Infektionsniveau ins Frühjahr und hoffen dann, dass das passiert, was 2020 auch passiert ist: Da hat uns das Frühjahr, da haben uns die wärmeren Temperaturen gerettet, zumindest vorübergehend.

 

Und was ist mit den Impfungen, die am 27. Dezember begonnen haben?

Wenn in einigen Wochen die besonders Gefährdeten in den Alten- und Pflegeheimen geimpft sind, dann haben wir einen großen Schritt getan. Ich glaube, dass dann die Sterbezahlen sinken werden. Wenn danach alle übrigen Über-80-Jährigen und deren Kontaktpersonen ebenfalls geimpft sind, dann haben wir viel gewonnen.

Ein normales Jahr wird 2021 trotzdem nicht. Aber ich bin optimistisch: Wenn in einigen Monaten die Massenimpfungen starten können, dann sollten wir im Herbst von einer dritten Welle verschont bleiben. Und dann haben wir Ende 2021 das Gröbste hinter uns. Aber Corona ist ja nicht das Einzige, was mir Sorgen macht.

 

Nämlich?

Es sind die Kollateralschäden. Wir wissen, dass im Frühjahr weniger Menschen wegen Herzinfarkten oder Schlaganfällen in den Krankenhäusern behandelt wurden. Aber nicht, weil es weniger Fälle gegeben hat. Sondern weil sich die Leute einfach nicht mehr in die Klinik getraut haben.

Wir bekommen weniger Meldungen über Menschen mit psychischen Problemen. Aber auch da wissen wir, dass es nicht weniger Fälle gibt. Vieles findet mehr hinter verschlossenen Türen statt.

 

Die Kollateralschäden sind aber nicht nur auf die Medizin begrenzt.

Ganz und gar nicht. Wissen Sie, eine meine Töchter ist Geigerin. Sie und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen haben derzeit kaum eine Chance auf ein Engagement. Ich fürchte, dass manches, das jetzt weggebrochen ist, nach Corona nicht einfach wieder neu entsteht. Corona ist deshalb nicht nur ein gefährliches Virus. Es macht unter Umständen das Land auch ein ganzes Stück ärmer.

Zur Person

Dr. Stefan Schmitzer, 57, ist seit 2018 Leiter des Gesundheitsamtes Roth-Schwabach. Der Mediziner, der lange Zeit in Zwiesel und in Neumarkt als Chirurg gearbeitet hat, ist in Wendelstein aufgewachsen und lebt mit seiner Frau in Allersberg. 2001 wechselte der Vater zweier erwachsener Töchter von der Klinik in den öffentlichen Gesundheitsdienst. Vor seiner Zeit in Roth arbeitete er als stellvertretender Leiter im Gesundheitsamt im Kreis Weißenburg-Gunzenhausen.

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