Mit 20 Jahren Praxis ist man im Kyudo noch Anfänger

26.8.2015, 17:23 Uhr
Mit 20 Jahren Praxis ist man im Kyudo noch Anfänger

© Foto: Marcel Staudt

Marlene Mortler wird demnächst Post bekommen. Es wird ein Antwortschreiben von Barbara Lemke sein, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung hatte der Kammersteinerin zur deutschen Meisterschaft im Kyudo (wir berichteten) gratuliert. Alles schön und gut, Lemke freut sich über so einen Glückwunsch. Aber: „Sie hat mir zu einer tollen Leistung im Seniorensport gratuliert. Das möchte ich nicht so stehen lassen.“

Kyudo ist nämlich kein Seniorensport, sondern ein Zusammenspiel von Körper und Geist, derer Erklärung sich einige Buchautoren angenommen haben. Kyudo (setzt sich aus den japanischen Wörtern für der Weg und der Bogen zusammen) ist eine der klassischen japanischen Kampfkünste, die sich aus den Waffentechniken der Samurai entwickelt hat. Geschossen wird dabei mit einem asymmetrischen Bogen, der je nach Körpergröße des Schützen zirka 2,20 Meter hoch ist. Ziel ist es, möglichst gut in eine rund 28 Meter entfernte Scheibe zu treffen, die einen Durchmesser von 36 Zentimetern hat und zehn Zentimeter über dem Boden steht.

Barbara Lemke trägt zum Üben in ihrem Garten — sie hat sich dort ihre eigene Schießanlage aufgebaut — traditionell japanische Kleidung, diese setzt sich aus Hosenrock (Hakama) und Dogi (Kimonohemd) zusammen. Außerdem braucht sie ein bisschen länger als beim westlichen Bogenschießen, bis sie einen Pfeil Richtung Scheibe schickt. Genau hier kommt der zweite Faktor der Sportart ins Spiel. „Kyudo ist auch immer mentales Training“, sagt Lemke.

Gedanken ausblenden

Es geht darum, Gedanken, die in diesem Moment eigentlich am wichtigsten erscheinen, auszublenden. Mache ich das richtig? Werde ich treffen? All das spielt in dem Moment, wenn der Schütze den Pfeil zur Hand nimmt und sich auf den Schuss vorbereitet, keine Rolle. Über acht genau festgelegte Bewegungsphasen müssen Körperhaltung und -spannung präzise koordiniert werden. Diese Bewegungsabläufe zu beherrschen und zu verfeinern, ist ein wesentliches Ziel des Übens. Lemkes Pfeil landet fast in der Mitte der Scheibe, doch das ist nicht so wichtig.

„Es kann passieren, dass ein Anfänger scheinbar ein großes Talent ist, weil er sehr gut trifft“, sagt die 75-Jährige. Irgendwann werde es aber passieren, dass der Schütze nicht mehr so treffsicher ist — und genau dann wird es laut Lemke interessant: „Nur wenn der Schütze dann dran bleibt und weiter, vor allem innerlich, an sich arbeitet, kann er besser werden. Im Kyudo ist jeder, der weniger als 20 Jahre dabei ist, noch ein Anfänger.“

Lemke selbst ist seit 1977 dabei. Bei einem Studienaufenthalt in Tokio hat die heute immer noch tätige Psychotherapeutin einen Traum. Im nächtlichen Schlaf sieht sie sich mit Pfeil und Bogen in der Hand. Lemke wertet es als Zeichen: Sie soll mit Kyudo beginnen. Sie lässt sich von einem japanischen Lehrer in die Sportart einweisen und vertieft in Deutschland ihr Wissen. Heute, 38 Jahre später, hat die Kammersteinerin den 5. Dan erreicht — einen Grad, den man nur nach jahrzehntelangem Üben erlangen kann.

Außerdem ist Lemke Trainerin bei der Kyudo-Abteilung des TB 88 Erlangen. 40 Mitglieder versuchen dort momentan, ihre innere Mitte zu finden. Besonders den Rückzug einer sehr lernwilligen Schülerin bedauert sie. „Aber es hätte sich verboten, sie zu überreden weiterzumachen. Diese Entscheidung muss jeder immer wieder für sich alleine treffen.“ Es ist die Entscheidung für ein äußerst kleinschrittiges Lernen, bei dem der Schüler vom Lehrer ständig korrigiert, aber nur selten gelobt wird. „Aber es lohnt sich. Wer Kyudo macht, kann dabei eine Energieerfahrung erleben.“

Die mehrmalige deutsche Meisterin entschied sich Anfang der 90er Jahre gegen Kyudo. Sie konzentrierte sich stattdessen auf Meditation, den Bogen fasste sie für zwei Jahre nicht mehr an. Grund war das Gefühl, nicht mehr innerlich daran reifen zu können: „Es war eine richtige Kyudo-Depression. Es hat mich fertiggemacht.“ Doch Lemke fand zurück, machte weiter und reifte doch noch. „Das Gefühl, das erste Mal wieder den Bogen in der Hand zu halten, war wunderschön.“

Innerliche Fortschritte

Das war es auch vor Kurzem in Neuburg an der Donau, als Lemke deutsche Meisterin in der Kategorie Sempai (hochgradierte Schützen ab dem 5. Dan) wurde. Bei solchen Wettbewerben ist dann schon entscheidend, wie gut man trifft. Deswegen sind die Schützen in verschiedene Kategorien — je nach Leistungsgrad — eingeteilt. Nur wer die Technik perfektioniert — laut Lemke können Prüfer den Schützen ihre innerlichen Fortschritte ansehen — steigt in die nächste Kategorie auf.

Angesehen hat man der Kammersteinerin den Triumph aber nicht, sie ballte keine Faust und ein Siegesschrei blieb aus: Gefühlsausbrüche sind beim Kyudo verpönt. Erst als Lemke aus der Halle war, zeigte sie ihre Freude über den Titel. Der wievielte es ist, weiß die 75 Jährige nicht. Sportliche Erfolge seien beim Kyudo ja nicht entscheidend. Was Lemke dagegen ganz genau weiß: Sie möchte 2017 bei der Weltmeisterschaft in Tokio teilnehmen — und Kyudo ist kein Seniorensport. Bald hat Marlene Mortler dazu eine schriftliche Erklärung vorliegen.

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