Welt-Aids-Tag: Von resistenten Märchen und Mythen

30.11.2018, 15:56 Uhr
Welt-Aids-Tag: Von resistenten Märchen und Mythen

Da ist der Röntgenmediziner, der plötzlich Gummihandschuhe während der Untersuchung trägt; beim Zahnarzt sind seit ein paar Monaten "überhaupt keine Termine mehr frei", und im Krankenhaus wird einem das isolierte WC in der versteckten Nische am Ende des Flurs zugewiesen.

Oder: Die Arbeitskollegen räumen das gemeinsam benutzte Geschirr nach der Mittagspause mit spitzesten Fingern beiseite und geraten schier in Panik, sobald man niest. Im Fußballverein wird Körperkontakt spürbar vermieden, und der Freundeskreis war auch schon mal größer . . .

"Willkommen im Jahr 2018!", sagt Arne Z. (Name geändert) ironisch. Solche und ähnliche Situationen kennt der 50-Jährige nur zu gut. 2007 wurde bei ihm HIV festgestellt. "Ich bin eigentlich ganz vernünftig mit der Diagnose umgegangen, weil ich ja wusste, dass es wirkungsvolle Medikamente dagegen gibt." Medikamente, die HI-Viren daran hindern, sich zu vermehren, sodass nach einiger Zeit keine mehr im Blut zu finden sind. Wie bei Arne Z.: "Ich bin unter der Nachweisgrenze, so lange ich meine Tabletten nehme."

Wer selbst nicht betroffen ist, hat davon jedoch kaum Ahnung: "Es gibt eine Studie, wonach weniger als zehn Prozent der Leute informiert sind, dass HIV-positive Menschen, die regelmäßig ihre Medikation einnehmen, keine Ansteckungsgefahr darstellen", unterstreicht Uwe Gerdelmann von der Aidshilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth e.V. – Allerdings: Heilbar sei die Infektion trotzdem nicht. Bis heute.

Auch Arne Z. weiß: Die Viren sind keineswegs aus seinem Körper verschwunden, sondern ruhen in bestimmten Zellen. Physisch gehe es ihm damit ganz gut, aber psychisch...

Ende der 1960er Jahre wird Arne Z. in Roth geboren, ein paar Jahre später zieht er mit seinen Eltern weg – in eine andere Kleinstadt. Als er im Pubertätsalter merkt, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, wird ihm "alles zu eng. Ich hatte das Gefühl, die zeigen mit dem Finger auf mich – den ´Perversling`!"

Deshalb treibt es den 17-Jährigen in die City. Er taucht in Künstlerkreise ein, wird im Musikbiz tätig, fühlt sich endlich wohl. Aids ist zu dieser Zeit ein großes Thema in der Schwulenszene. Um ihn herum "wird reihenweise gestorben". Der junge Mann kennt die Ansteckungsgefahr, sorgt deshalb mit Präservativen vor, geht regelmäßig zum Aidstest – "die Angst war groß".

Allmählich entspannt sich die Lage. Arne Z. führt mehrjährige Beziehungen, vertraut seinen Partnern. Drum ist es für ihn "schon zuerst ein Schock", als der Arzt im Zuge einer Routine-Testung 2007 erklärt: "Sie haben sich mit HIV infiziert!" Heute weiß Arne Z.: Vertrauen ist gut, Verhütung besser! Allerdings sei die Forschung auch in diesem Punkt mit Meilenstiefeln vorangeschritten: Dass ein HIV-positiver mit einem gesunden Menschen eine echte Beziehung führen kann, sei vor gar nicht allzu langer Zeit schier undenkbar gewesen. Heute gebe es Präventivpräparate, die den HIV-negativen Partner vor einer Übertragung der Infektion schützen, erklärt Sozialpädagogin Maria Jörg vom Gesundheitsamt Roth-Schwabach.

Trotz allen Fortschritts muss sie dennoch konstatieren: "Es herrscht viel Unwissen, viel Unkenntnis bezüglich der Übertragungswege". In ihren Aufklärungsvorträgen an den Schulen hat sich etwa die Stechmücke als "Klassiker" unter den vermeintlichen Überträgern etabliert — "sie wird von den Schülern immer wieder genannt". Doch auch bei den Erwachsenen kursieren derlei "Mythen": "Zum Beispiel wird gefragt, ob der Kontakt mit einer Türklinke, die zuvor eine HIV-positive Person in der Hand hatte, das Virus übertragen könnte", berichtet Brigitte Schöner, Fachärztin am Gesundheitsamt, aus der Praxis.

Fakt aber ist: HI-Viren werden ausschließlich über Blut, Samen- und Scheidenflüssigkeit, den Flüssigkeitsfilm auf der Schleimhaut des Darmausgangs und Muttermilch weitergegeben. Es kann also homo- wie heterosexuelle Menschen treffen, Groß und Klein. "Ja, jeden – so, wie das eben bei chronischen Krankheiten ist", untermauert Katrin Stettner, ebenfalls Sozialpädagogin am Rother Gesundheitsamt. Denn nichts anderes sei HIV: eine chronische Erkrankung. Und deshalb gelte: Je früher erkannt, desto besser gebannt. Im Klartext: Wer zeitig Bescheid weiß über seinen Status, kann entsprechend medikamentiert werden. Er beugt damit der Gefahr von Aids vor, dem Spätstadium der Infektion – und schützt andere.

Arne Z. hat genau das beherzigt. "Man trägt doch Verantwortung", meint er. Gleichwohl sei der Zeitpunkt der Gewissheit jener gewesen, an dem Arne Z.´s Rückzug begann. Als er sich nämlich seinem familiären Umfeld anvertraut, wird da zum Teil mit krasser Ablehnung, ja Abscheu reagiert. Und alsbald muss Arne Z. "leider feststellen", dass das Gros der Gesellschaft Vorurteile und "dumme Sprüche" über HIV oder Aids stets bei der Hand hat.

Seine Konsequenz: Er meidet ab sofort Sozial- und Sexualkontakte, "mag einfach nicht mehr unter die Leute". Arne Z. wird regelrecht depressiv und ist damit kein Einzelfall. Lediglich zu seiner Mutter, die wieder nach Roth gezogen ist, und zur Aidshilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth e.V. hält er den Draht.

"Ein toller Verein!", kann Arne Z. nur schwärmen, zumal man sich von dort neben der seelischen Unterstützung durch ein geschultes Team, auch ganz pragmatische Hilfen erwarten dürfe – etwa in Form einer Liste an Ärzten, die HIV-positiven Menschen unvoreingenommen begegnen. Unter anderem.

Würde am heutigen Welt-Aids-Tag eine gute Fee auf seiner Schwelle stehen, um ihm einen Wunsch zu erfüllen, dann wäre es für Arne Z. dieser: "Eine aufgeklärte, faire Gesellschaft!"

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