Zwischen Würde und Körperverletzung

15.11.2012, 00:00 Uhr

Sechs Angeklagte aus Schwabach und Roth, sechs Rechtsanwälte aus der Darmstädter Kanzlei Iffland & Wischnewski, eine Fachkanzlei für Sozialwirtschaft, die sich unter anderem im Heim- und Pflegerecht spezialisiert hat. Die Anwälte machten schon eingangs der Verhandlung in jeweiligen Erklärungen für ihre Mandanten deutlich, dass die Pflege durchaus angemessen war, dass man vor allem das Selbstbestimmungsrecht und die Würde der ihr anvertrauten Patientin geachtet habe. Es sei nicht immer einfach gewesen, die alte Dame zu betreuen.

Immer wieder, so die Erklärungen der Anwälte, wehrte sich die Patientin schreiend gegen Berührungen ihrer nach einem Schlaganfall kontrahierten linken Hand (Kontraktion ist die Verkürzung von Muskeln und Sehnen und die Versteifung der Knochen) und auch des linken Fußes. Eine Pflege war nur eingeschränkt möglich. Die Haarwäsche musste abgesprochen werden, fand in der Regel alle zwei Wochen statt. Mit Babyöl sei die trockene Kopfhaut der Frau eingerieben worden.

„Die Frau hatte sehr wohl eine eigene Vorstellung, wo und wie sie leben wollte“, sagte Anwalt Jörn Bachem. „Sind Schuppen auf der Haut eine Körperverletzung“, fragte er. „Ist eine Rötung unter der Brust eine Körperverletzung? – Wo kam sie her? Von einem Gurt beim Transport ins Altenheim?“ Für Bachem waren Spekulationen über die Gründe angeblicher pflegerischer Mängel fehl am Platze, und er betonte noch einmal, dass gegen den Willen eines Patienten „nur gepflegt werden darf, wenn Todesgefahr besteht“.

Hand aufgebrochen

Heftig nahmen die Anwälte den durch das Amtsgericht Schwabach bestellten Betreuer und „obersten Chef“ des Pflegeheimes ins Verhör, in das die betagte Dame in einer „Hauruck-Aktion gegen ihren Willen verschleppt wurde“ (Bachem). Obwohl die Frau vor der Heimunterbringung eigenständig gegessen habe, sei ihr eine Magensonde gelegt worden. Vor allem aber sei ihr die kontrahierte Hand „aufgebrochen“ worden, „was extrem schmerzhaft war“. Die linke Hand sei gegen den Willen und ohne Rücksprache mit dem bisherigen Pflegedienst gewaltsam geöffnet worden, betonte auch Rechtsanwalt Sascha Iffland. Das hätte nur ein Arzt anordnen dürfen.

Die Frage, warum die Frau ins Heim gebracht wurde, beantwortete der Betreuer mit einer Empfehlung des Hausarztes, der von einer „drohenden Vereinsamung“ der Dame sprach und von einer dementen Entwicklung. Aus gesundheitlichen Gründen schlug er eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung vor. Zudem sah der Betreuer finanzielle Gründe: „Die Ausgaben waren höher als die Einnahmen.“

Die Frage von Anwältin Pia Diehl, ob sich der Betreuer als Vorstandsvorsitzender des Sozialverbandes wirtschaftliche Vorteile für „sein“ Heim verschaffen wollte, unterband die Richterin, „denn das verhandeln wir nicht“. Es gehe hier um den pflegerischen Zustand. „Dass Sie mit der Verlegung nicht einverstanden sind, ist deutlich bei mir angekommen“, sagte Dr. Andrea Martin.

So wurde der Hausarzt in den Zeugenstand gerufen, der die betagte Dame seit vielen Jahren hausärztlich begleitet. Er berichtete, dass sich die Kontrakturen nach einem Schlaganfall im Jahr 2002 trotz Bewegungsübungen „sehr schnell ausgebildet haben“. Binnen kurzer Zeit war die Hand vollkommen geschlossen. Der Arzt wusste von der Schmerzempfindlichkeit seiner Patientin, gab aber an, dass er vom Pflegedienst nie aufgefordert worden sei, Schmerzmittel zu verordnen.

Der Mediziner erinnerte sich auch daran, wie eine Mitarbeiterin des Pflegedienstes die linke Hand seiner Patientin gewaschen hat: in einem Plastikbeutel mit warmem Wasser und Seife. Genau so, wie es die Sachverständige später bei der Erstattung ihres Gutachtens empfohlen hatte.

Kontakte zwischen dem Hausarzt und dem Pflegedienst gab es in all den Jahren weder telefonisch noch persönlich. „Es gab ja den Pflegebericht“, sagte der 65-jährige Mediziner. „Für mich war daraus nicht ersichtlich, dass es Fragen an mich gibt“, sagte der Arzt, der Schmerzmittel während der häuslichen Pflege nicht verordnen wollte, da sonst die Gefahr von Wundliegen bestand. Einen Anlass für (pflegerische) Maßnahmen aufgrund des Hautbildes sah er im Jahr 2010 nicht. Und wie die Hand seiner Patientin im Pflegeheim geöffnet wurde, wusste der Arzt auch nicht. Er hat nicht danach gefragt. Danach aber hat er ein Schmerzmittel verschrieben.

Für die Anwälte war hier der Zeitpunkt gekommen, ein Rechtsgespräch führen zu wollen, um das Verfahren abzukürzen. Anwalt Alexander Wischnewski verstand „mit Verlaub die Welt nicht mehr“, warum hier die Pflegekräfte angeklagt sind. Doch Richterin Martin wollte erst Bärbel Reschmeier hören, öffentlich bestellte Sachverständige für Pflege.

Von einem „problematischen gelblichen Belag in der Handinnenfläche“ sprach die Gutachterin und stellte fest, „dass da etwas schiefgelaufen ist bei der Pflege“. Auch

ein Schmerzmanagement wäre notwendig gewesen. Beim Studium des Pflegeberichtes fiel ihr auf, dass die Patientin teilweise Maßnahmen zugelassen hat. „Das hätte der Pflegedienst nutzen müssen, um immer wieder mit ihr zu sprechen“, sagte Reschmeier, die die Pflegedokumentation aber insgesamt als „vorbildlich“ lobte.

In der Zusammenarbeit mit dem Hausarzt fiel ihr auf, dass es keine Kommunikation gab. Sie war auch überrascht, dass der Arzt bei der häuslichen Pflege eine Schmerzbehandlung abgelehnt hätte, wie er auf Anfrage sagte. „Kein Mensch muss Schmerzen erleiden“, betonte die Sachverständige.

Nach einem dann doch stattgefundenen Rechtsgespräch stellte Richterin Andrea Martin mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und aller Verteidiger/innen das Verfahren gegen die Auflage vorläufig ein, dass alle Angeklagten – bis auf eine Kollegin, die in den USA weilt – an einem mehrtägigen Qualitätsmanagement-Seminar mit Bärbel Reschmeier teilnehmen. Die Inhaberin des Pflegedienstes verpflichtet sich, die Kosten für das Seminar zu übernehmen.

Kreative Lösung

Die Richterin sah große Unsicherheiten bei den Pflegekräften und hatte den Eindruck, dass sich alle Beteiligten „manchmal zu sehr dem Willen der Patientin gebeugt haben“. Martin sprach anerkennend von einem anstrengenden Job in der Altenpflege und wollte das „Urteil“ als „Unterstützung für ihr weiteres berufliches Leben“ (der Pflegerinnen) verstanden wissen. Sie war froh, dass eine „kreative Lösung“ gefunden wurde und bedankte sich bei den Anwälten ausdrücklich für die konstruktive Mitarbeit. Die Verurteilung zu einer Geldstrafe, „die vielleicht (in der nächsten Instanz) nicht standgehalten hätte, wäre die schlechtere Lösung gewesen“, war die Richterin überzeugt.

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