Schritt für Schritt aus der "Grübelschleife"

27.3.2017, 17:30 Uhr
"Klettern und Stimmung" heißt das Programm, bei dem Erlanger Forscher Depressionspatienten mit einer Klettertherapie behandeln.

© Uniklinik Erlangen "Klettern und Stimmung" heißt das Programm, bei dem Erlanger Forscher Depressionspatienten mit einer Klettertherapie behandeln.

Kerstin reckt vorsichtig die rechte Hand nach dem nächsten gelben Griff in der Kletterwand einer Halle in Zirndorf (Kreis Fürth). Schweißperlen stehen ihr im Gesicht, ihr Blick ist konzentriert. Langsam streckt die 24-jährige Studentin den Rücken etwas mehr durch, verlagert das Gewicht auf den Beinen – und bekommt den Griff schließlich zu fassen. Mit einer konzentrierten Bewegung zieht sie sich ein Stück höher, ihr linker Fuß findet neuen Halt. Ihr Blick – nach links oben gerichtet: Dort wartet der nächste Griff.

Unser Bild zeigt eine Gruppe von Therapeuten und Freiwilligen bei einem Testlauf.

Unser Bild zeigt eine Gruppe von Therapeuten und Freiwilligen bei einem Testlauf. © Uniklinik Erlangen

Kaum fünf Minuten später hat Kerstin ihre Route durch die Kletterwand bewältigt und blickt von oben auf Katharina herab, die beide Daumen reckt und lobt: "Sehr gut hast du das gemacht!" Kerstin zuckt kurz mit den Schultern, sagt leise: "Du hast mir ja auch geholfen." Doch das lässt Katharina nicht gelten, energisch schüttelt sie den Kopf: "Wer ist da hoch geklettert – du oder ich?"

Ortswechsel in ein Büro im ersten Stock der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik der Uniklinik Erlangen. Während es sich bei Kerstin aus dem Beispiel oben um ein Pseudonym handelt, gibt es Katharina wirklich: Sie heißt mit Nachnamen Luttenberger und ist Diplom-Psychologin und Privatdozentin mit dem
Forschungsbereich Versorgungsforschung bei psychischen Erkrankungen. Was das mit einer Boulderhalle zu tun hat?

"Wir haben ab 2013 eine Studie gemacht um zu zeigen, dass in einer Bouldertherapie gute Fortschritte mit depressiven Patienten erzielt werden können", erläutert die Wissenschaftlerin, die selbst begeisterte Sportkletterin ist. "Das Glücksgefühl, etwas erreicht zu haben, sich Schritt für Schritt emporzuarbeiten und schließlich von einem Felsen oder einer Boulderwand auf das Erreichte herabzublicken ist ja auch ,gesunden‘ Menschen nicht fremd", führt die 33-Jährige aus.

Beim Klettern geht es um das Anpacken im Hier und Jetzt

Deswegen kamen Luttenberger und Kollegen aus der Klinik auf die Idee einer Bouldertherapie, die neben dem eigentlichen Klettern auch therapeutische Betreuung umfasst. "Bei Depressionskranken geht es oft zunächst einmal darum, die ,Grübelschleifen‘ zu durchbrechen", erläutert die Psychologin. Gemeint sind endlose Gedankenschleifen, die meist rückwärtsgewandt oder zukunftsängstlich geprägt sind und die viele Erkrankte nächtelang um den Schlaf bringen.

"Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man beim Klettern nicht denken kann – da ist man voll im Hier und Jetzt und auf den nächsten Griff fokussiert", sagt Luttenberger. Es geht also nicht allein um körperliche Anstrengung und ausgeschüttete Hormone, sondern um die Erkenntnis, bewusst abschalten zu können und diesem Gedankenkarussell zu entgehen.

"So etwas will auch die sogenannte Achtsamkeitspraxis erreichen, allerdings ist hier der Weg ein anderer", schildert Luttenberger. "Da versucht man, über Meditation oder die Beobachtung des eigenen Atems das Gedankenkarussell zu unterbrechen. Auch Achtsamkeitsübungen setzen wir in der Bouldertherapie ein." Luttenberger ist sehr wichtig, dass viele eingeschlagene Wege ans Ziel führen können. "Nehmen Sie die Verhaltenstherapie. Die wird unter Fachleuten als Goldstandard bezeichnet, weil ihre Effektivität durch zahllose Studien eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurde. Dabei wird mit den Patienten in ausführlichen Gesprächen das eigene Verhalten analysiert und nach Lösungen gesucht.", sagt die Psychologin. "Es gibt keine besser erforschte Therapie als diese."

Angst empfinden ist ganz anders, als über Angst zu sprechen

Andererseits hat sie die Erfahrung gemacht, bei der Bouldertherapie einen sehr direkten Zugang zu den Patienten zu bekommen. "Viele Depressionspatienten haben Ängste. Doch ist es etwas anderes, über Ängste theoretisch zu sprechen, als in einem bestimmten Moment wirklich Angst zu empfinden und dann direkt mit ihr umzugehen", ist Luttenberger überzeugt. Beim Bouldern seien gerade zu Anfang häufig Ängste zu überwinden: "Die blicken die steile Wand rauf und sagen: ,Das schaffe ich nie!‘ Und dann beginnen wir eben erst einmal mit dem nächstgelegenen Griff – Schritt für Schritt."

In KatharinaLuttenbergers Wahrnehmung eignet sich durch dieses Schritt-für- Schritt-Planen eine Bouldertherapie also auch, um Patienten dauerhaft grundsätzliche Lebensstrategien zu vermitteln. "Dass Patienten mit einer Bouldertherapie eine bessere Genesung aufweisen als solche, die nur im herkömmlichen Versorgungssystem untergebracht sind, konnten wir mit der Studie 2013 bereits zeigen", sagt Luttenberger selbstbewusst. In der neuen, noch etwas größer angelegten Studie soll es nun darum gehen, die Effektivität der Bouldertherapie mit einer herkömmlichen Verhaltenstherapie zumindest gleichzusetzen.

Dazu werden ab Mai drei Gruppen gebildet: Eine Gruppe Patienten erhält die klassische, sehr gut erforschte Verhaltenstherapie, eine weitere ein sogenanntes aktivierendes Bewegungsprogramm. Die dritte schließlich erprobt die Bouldertherapie einmal wöchentlich in der Kletterhalle in Zirndorf. Wer in welcher Gruppe landet, entscheidet unter allen Teilnehmern das Los. "Diese drei Gruppen sind notwendig, um vergleichen zu können", sagt Luttenberger – verspricht aber: "Die Teilnehmer in Erlangen werden alle früher oder später in der Boulderhalle klettern dürfen!"

Mitmachen können Menschen, die bei sich eine Depression vermuten – eine Überweisung vom Arzt ist nicht notwendig. "Man muss auch nicht im Versorgungssystem gewesen sein – wir sind sehr interessiert an Probanden, die noch keinerlei klinische Vorerfahrung haben", sagt Luttenberger ganz klar. Das niederschwellige Angebot richtet sich dabei nicht nur an junge Menschen. "Unsere ältesten Teilnehmer in der ersten Studie waren um die 70 Jahre alt", berichtet Luttenberger. Bis zu 90 Probanden werden für die aktuelle Studie allein in Erlangen gesucht. Sie läuft außerdem noch parallel in München und Berlin.

Voraussetzung ist die Teilnahme an einem der unverbindlichen Informationsabende. Teilnehmer werden auch über die aktive Dauer der Studie noch mehrfach telefonisch interviewt – das letzte Mal ein Jahr nach Abschluss der eigentlichen Therapie: "Die Langzeitwirkung ist uns sehr wichtig", erklärt Luttenberger. Abgeschlossen sein soll die Studie dann im Herbst 2019. Doch Luttenberger ist sich sicher. "Die Bouldertherapien werden über die Studie hinaus weiter bestehen!"

Klettern und Stimmung (KuS): Infos unter www.studiekus.de, * 0 91 31-85 446 21. Informationstermine: Bereits am kommenden Dienstag, 28. März, sowie am 4. April und 25. April; jeweils 16 Uhr im Wintergarten der Tagesklinik der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Klinik Erlangen, Schwabachanlage 6.

Keine Kommentare