Schulverbände fordern verpflichtendes Fach für mehr Toleranz

8.6.2019, 08:00 Uhr
Schulverbände fordern verpflichtendes Fach für mehr Toleranz

© David W./photocase

Dieser Tage hat der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Juden abgeraten, überall Kippa zu tragen. An manchen Orten der Republik sei das zu gefährlich. An einer Schule in Schweinfurt wird ein Mädchen von Mitschülern bedroht, weil es ein Wurstbrötchen gegessen hat. Die Wurst aus Schweinefleisch sei unsauber, meinten die Mobbenden.

Religiöses Mobbing ist Alltag geworden. In der Gesellschaft, aber auch in den Schulen, ihren Keimzellen. Dabei sind Schulen die Brenngläser unserer Gesellschaft, denn hier treffen alle sozialen Schichten, Kulturen und Religionen aufeinander. Doch wie erzieht man Schüler unterschiedlicher Herkunft und Religionszugehörigkeit zu gemeinsamer Akzeptanz und friedlichem Zusammenleben? Braucht es dazu einen gemeinsamen Werteunterricht oder leistet das bereits der Religionsunterricht, wie die Kirchen behaupten?

In den bayerischen Großstädten besuchen mittlerweile häufig mehr Kinder den Ethik-, als den Religionsunterricht. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn Ethik in seiner Ausgestaltung gleichwertig mit der Religionslehre wäre. Ist das Fach aber nicht. Ethik gilt als Ersatzfach für den bekenntnisorientierten Religionsunterricht. Und der genießt bundesweit Verfassungsrang und hat im Schulwesen auch deshalb einen hohen Stellenwert.

Seit jeher wird der Ethik-Unterricht vom bayerischen Kultusministerium stiefmütterlich behandelt. Dabei war Bayern 1972 das erste Bundesland, das Ethik als Unterrichtsfach zugelassen hatte. Allerdings nicht, um Toleranz und Weltoffenheit zu demonstrieren, sondern schlichtweg, um die zunehmende Zahl von Abmeldungen vom Religionsunterricht zu kompensieren.

Dabei wäre die Professionalisierung der Ethik-Lehrer dringend geboten: Die evangelischen Gemeinden verzeichnen seit 2002 jedes Jahr mehr als 20 000 Austritte. 2017 waren es exakt 23 647 Mitglieder weniger, bei den Katholiken im gleichen Jahr sogar 48 281. Zugleich nimmt die Zahl muslimischer Mitbürger leicht zu. Der Islamunterricht, der jüngst fest implementiert wurde, trägt diesem Zuwachs Rechnung. Doch was ist mit dem Fach Ethik? Das Lehrmaterial stammt größtenteils aus den 70er Jahren. Lehrer, die Ethik unterrichten, sind selten intensiv ausgebildet. Bislang existiert lediglich eine dreiwöchige Fortbildung für interessierte Lehrer an der Lehrerakademie in Dillingen, und bisher können Lehrer in Bayern Ethik oder Philosophie nur als Erweiterungsfach (Drittfach) studieren. Das hat zur Folge, dass viele Pädagogen Ethik fachfremd und nach den eigenen Vorstellungen unterrichten. Ein ordentliches Studium gibt es nicht, doch da bewegt sich das Kultusministerium gerade.

"Derzeit ist eine Änderung der Lehrerprüfungsordnung 1 in Vorbereitung. Diese soll ermöglichen, künftig die Erste Lehramtsprüfung sowohl im Fach Ethik als auch im Fach Philosophie/Ethik für das jeweilige Lehramt abzulegen", erklärt eine Ministeriumssprecherin. Darüber hinaus hege das Kultusministeriums keine Überlegungen, den Status des Faches Ethik gegenüber der Religionslehre oder die gesetzlich verankerte inhaltliche Ausrichtung des Ethikunterrichts zu ändern. Eine klare Absage.

Dabei hatte schon Ludwig Spaenle, Kultusminister Michael Piazolos Vorgänger, versprochen, den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen und das Fach Ethik aufzuwerten. Im Jahr 1998, also vor 21 Jahren, stellte sogar das Bundesverwaltungsgericht in einem Grundsatzurteil fest, dass Ethik als ordentliches Lehrfach anzubieten und dem Religionsunterricht gleichzustellen sei.

Fehlende Fakultäten

Davon ist in Bayern noch wenig zu merken. Eigentlich sollten die ersten angehenden Pädagogen auch schon in diesem Jahr entweder Ethik oder Philosophie studieren können, ginge es nach dem Kultusministerium. Doch die Fakultäten und das zuständige Lehrpersonal sind noch gar nicht aufgebaut, es wird also noch dauern.

Erwin Schmid, Vorsitzender des Bundes für Geistesfreiheit in Bayern, weist darauf hin, dass religiös motiviertes Mobbing an den Schulen massiv zunehme, weil das gegenseitige Verständnis für die jeweils andere Religionszugehörigkeit und deren Normen schwinde. Man müsse der Pluralität in der Gesellschaft endlich Rechnung tragen, mahnt Schmid: "In einem gemeinsamen verpflichtenden Ethik- oder Werteunterricht könnten die Kinder lernen, wie man trotz unterschiedlichen Glaubensrichtungen gut kooperiert."

Ein derartiger Unterricht sei friedensstiftend und diene der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Ethik als Regelfach gibt es bislang nur in Berlin und Brandenburg. Schmid hofft, dass sich dieses Modell bald in allen Bundesländern durchsetzt.

Ulrike von Chossy, Schulleiterin der Humanistischen Grundschule in Fürth und Vizepräsidentin des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD), ist derselben Meinung. Der Verband, der die Einführung des Fachs Humanistische Lebenskunde an allen bayerischen Schulen fordert, hat den Freistaat mit Verweis auf die Gleichstellung von evangelischen, katholischen und atheistischen oder andersgläubigen Kindern verklagt.

Bislang darf das Fach nur an den Verbandsschulen unterrichtet werden. Die Ausbildung der Lehrer leistet der HVD selbst. Von Chossy gibt ein Beispiel aus dem Schulalltag: "Wir hatten einen Todesfall an unserer Fürther Schule, und es war unglaublich schwer, der nichtreligiösen Familie, Lehrern und Mitschülern Trost zu spenden, abseits der bekannten religiösen Rituale." Mittlerweile habe man sich den Umgang mit dem Tod im gemeinsamen Diskurs erarbeitet, doch nach wie vor fehle es an Pädagogen, die auf weltlich-humanistische Bedürfnisse eingehen könnten, ohne zu sagen "der Papa ist jetzt im Himmel".

Die Klage des HVD Nürnberg gegen den Freistaat wurde abgewiesen. Von Chossy lässt sich nicht entmutigen. Eines Tages werde Humanistische Lebenskunde ein staatlich organisiertes Fach sein, wie andere Schulfächer auch, ist sie überzeugt.

Kultusminister Michael Piazolo sieht das anders: "Beim vom Humanistischen Verband gewünschten Schulfach ,Humanistische Lebenskunde‘ handelt es sich nicht um einen weltanschaulich-religiös neutralen Ethikunterricht, sondern um einen Weltanschauungsunterricht, bei dem die Schüler zu einer von einer bestimmten weltanschaulichen Gemeinschaft vertretenen Weltanschauung erzogen werden sollen." Ein solcher Unterricht sei im Grundgesetz und in der Bayerischen Verfassung nicht vorgesehen.

FDP will "Dialogunterricht"

Die FDP in Bayern teilt diese Auffassung des Kultusministers nicht. Die Liberalen nennen das von ihnen gewünschte und für alle verpflichtende Fach nur "Dialogunterricht". Matthias Fischbach, bildungspolitischer Sprecher der FDP: "Vor dem Hintergrund der zunehmend verbreiteten religiösen Vorurteile und den damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungen wollen wir das Konzept des Dialogunterrichts parallel zur Religions- und Wertekunde vorantreiben, um alle Glaubensrichtigungen stärker zusammenzuführen."

Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (BLLV): "Wenn Kinder religiöse Vielfalt von klein auf als Normalität und kulturelle Bereicherung erfahren, gibt es weniger Konflikte." Man müsse dem Auseinanderdriften der Gesellschaft etwas entgegenstellen. Ein gemeinsamer Ethikunterricht wäre ein Anfang, doch dafür müssten andere Lerninhalte weggelassen werden.

Kathrin Frieser von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) argumentiert in dieselbe Richtung: "Am besten wäre ein interreligiöser Unterricht, der Wissen über die unterschiedlichen Glaubensrichtungen vermittelt. Das könne auch in Ethik passieren."

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