Die Leiden als Kleinstadt-Reich-Ranicki

14.11.2015, 09:35 Uhr

In dieser Woche war ich sowohl Experte für die Restaurierung völlig vergilbter Lateinlexika aus der Stadtkirchenbibliothek — Erstes Buch der Kapitelsbibliothek der Stadtkirche restauriert — als auch für häusliche Gewalt und proaktive Beratung in Frauenhäusern — Interview mit Andrea Hopperdietzel.

Vor allem aber durfte ich den Literaturkritiker mimen. Montagabend: LesArt, Dienstagabend: LesArt, Mittwochabend: LesArt. Während die Kollegen nach eigenem Bekunden daheim auf der Couch abgehangen sind oder Selbstgeißelung im Fitnessstudio betrieben haben, durfte ich in die Welt der großen Literatur eintauchen, einen leibhaftigen Büchner-Preisträger live bestaunen, sogar ein Werk persönlich signieren lassen.

Es war erhebend. Aber leider nicht so einfach.

Offen gestanden gibt es kaum eine größere Herausforderung, als die Rolle des Kleinstadt-Reich-Ranickis wenigstens mit intellektuellen Minimalstandards zu interpretieren.

So weit ich das erkenne, besteht die erste Herausforderung eines Literaturkritikers darin, angesichts all der Auszeichnungen für die renommierten Autoren nicht sofort in die Rolle des frenetischen Adoranten zu verfallen.

Natürlich hätte ich auch einfach „Bewunderer“ schreiben können, aber luxuriös eingestreute Fremdwörter sind eine unverzichtbare Ingredienz jeder sich anspruchsvoll gerierenden Rezension.

Umgekehrt ist es aber noch schwieriger, gnadenlose Kritik zu üben. Niemand weiß besser, wie schwer es bereits fällt, schlichte Zeitungsberichtleins ohne grammatikalische Verwerfungen in die Tastatur zu hacken. Soll ich da wirklich den Reißwolf spielen und mich mit Stars aus dem Literaten-Olymp anlegen?

Sogar noch heikler ist die Reaktion des Publikums. Wenn Hunderte sich feixend auf die Oberschenkel klopfen, will man dann Leute wie Klüpfel & Kobr wirklich als Höhenflieger des Flachwitzes tadeln und damit auch ihre Fans — und womöglich auch unsere Leser — verhöhnen? Ehrlich gesagt: Nö. (Klüpfel & Kobr bei LesArt: Literatur trifft auf Comedy.)

Die Probleme beginnen aber schon vor dem LesArt-Start. Organisatorin Hanne Hofherr schickt traditionsgemäß eine nette Mitarbeiterin vorbei, die freundlich lächelnd eine schwere Plastiktüte mit all den Romanen, Krimis und Satiren auf meinen Schreibtisch krachen lässt. Das seien nur die Bücher, die ich mir doch gewünscht hätte. So zum Einlesen. Schließlich müsse ich doch wissen, über was ich da eigentlich zu fabulieren gedenke.

Eine grundsätzlich diskussionswürdige Idee, dachte ich noch. Unglücklicherweise kollidierte deren Umsetzung mit telefonbuchdicken Stadtratsunterlagen. Und als dann auch noch das neue Kicker-Sonderheft „60 Jahre Europacup“ erschien, war mein Zeitbudget für eine seriöse LesArt-Vorbereitung einem kaum zu lösenden Interessenskonflikt ausgeliefert.

In manchen Rollen muss man eben improvisieren, sagte ich mir. Außerdem lesen die Autoren doch aus den Büchern vor! Wäre es da nicht geradezu sträflich, mich des spontanen Eindrucks durch die Voreingenommenheit der Vorablektüre zu berauben? Dieses offenkundige Risiko wäre unverantwortlich gewesen.

Zum Glück kenne ich eine begeisterte Schnellleserin. Also legte ich den Hofherrschen Bücherberg auf den Nachttisch meiner Frau, schenkte mir ein Pils ein und griff besten Gewissens zum Kicker.

Und ich muss sagen: Unter Literaturkritikern wird das Fußballmagazin fahrlässig unterschätzt. Anekdoten alter Haudegen wie „Bulle Roth“, detaillierte Taktikschemata, Mannschaftsaufstellungen, dramatische Torfolgen: Welch stilistische Vielfalt! Welch brillantes Formenspiel! Welch alles durchdringende Analyse! Welch Mut zur schnörkellosen Reduktion auf das Wesentliche!

Und Dramen bietet der Fußball ja auch. Bestimmt kommt nächstes Jahr Franz Beckenbauer zu LesArt und stellt sein (Sommer)-Märchenbuch vor. Wie man aus Literaturkreisen vernimmt, sind zwei Titel im Gespräch: „Als ich noch Kaiser war — 6,7 Millionen Erinnerungen an eine Lichtgestalt“ oder schlicht „Schweigen ist Gold“.

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