Glosse: Die feine englische Art kultivierter Verachtung

7.9.2019, 05:58 Uhr
Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Jetzt kommt Boris Johnson auch noch im "Goldrichtig?!?" vor. Wie soll das nur enden...

© Daniel Leal-Olivas/PA Wire (dpa) Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Jetzt kommt Boris Johnson auch noch im "Goldrichtig?!?" vor. Wie soll das nur enden...

Ich liebe diese Briten einfach. Also vielleicht nicht alle gleich. Das fällt seit geraumer Zeit ja auch ein klein wenig schwer. Aber ganz bestimmt diesen älteren Herren aus Wakefield in Nordengland, der mit einem Satz gerade zum Youtube-Star aufgestiegen ist. Und zwar völlig zurecht.

Deshalb heute für alle England-Fans und solche, die es werden wollen, der frenetische Videoclip-Tipp der Woche: Die kurze Begegnung zwischen einem ganz normalen Bürger und diesem vielleicht nicht ganz so normalen Premierminister. Es ist nur ein Satz, und doch sagt er mehr über britische Kultur als alle Schulbücher.

In Frankreich bauen die Gelbwesten gerne mal brennende Straßenbarrikaden, und bei uns in Deutschland wirft man zur Not ein paar Eier auf Politiker.

Eine herzliche Bitte

Ganz anders in Großbritannien. Hier zelebriert man selbst dann, wenn man jemandem zum Teufel jagen will, die feine englische Art. Der Mann brüllt Boris Johnson nicht etwa nieder oder überhäuft ihn mit Hasstiraden. Nein, er lächelt ihn an, klopft ihm auf die Schulter und formuliert in mildem Ton eine herzliche Bitte: „Please leave my town.“ Hochdeutsch übersetzt: „Bitte verlassen Sie meine Stadt.“ Aber das trifft es natürlich nicht. Auf Fränkisch würde es wohl heißen: „Hau ab, Du Depp.“ Doch so etwas würde ein kultivierter Brite natürlich nie sagen.

Umso rätselhafter, wie es einige Herrschaften ins Parlament oder sogar in Downing Street 10 geschafft haben. Man stelle sich die Szene aus dem Londoner Unterhaus im Schwabacher Stadtrat vor. Da gibt Jacob Rees-Mogg, einer der führenden Konservativen und obersten Brexitianer, den Lümmel aus der ersten Bank. Was wäre, wenn, sagen wir, Karl Freller sich plötzlich hinfläzen und mit herzlicher Verachtung ein demonstratives Nickerchen halten würde?

Würde OB Matthias Thürauf so laut „Ooooorder“ schreien, dass der marode Fachwerkputz vom Rathaus fällt? Das wäre nicht so ganz seine Art. Vielleicht würde auch er einfach lächeln und sagen: „Please leave my town“.

Ganz normal?

Natürlich hat Freller mit Rees Mogg etwa so viel gemein wie Johnsons Brexit-Crashkurs mit einem Rest an Vernunft. Und als Landtagsvizepräsident hat Freller ja selbst alle Hände voll zu tun, an zivilisierte Manieren zu erinnern, etwa wenn ein Abgeordneter beim Gedenken an einen ermordeten CDU-Politiker ungerührt sitzen bleibt.

Oder man stelle sich vor, Thürauf hätte die brillante Idee, dass Schwabach aus der Bundesrepublik austritt, und damit ihm keine lästigen Stadträte dazwischenfunken, schickt er den Stadtrat einfach mal in Zwangsurlaub. Johnson findet so was ganz normal.

Ich will mich ja nicht einmischen, und auf mich hört zurecht eh keiner, aber wenn ich als alter Großbritannien-Fan aus der Distanz einen kleinen Wunsch an den hochverehrten Premierminister richten darf: „Please leave your country.“ Nur bitte nicht zu uns.

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