»Tiger« in der Tankstelle

17.4.2010, 00:00 Uhr
»Tiger« in der Tankstelle

Anfang April 1945 begannen die Vorbereitungen für den Kampf um Nürnberg. Ich war 12 Jahre alt und besuchte die dritte Klasse am Adam-Kraft-Gymnasium in Schwabach.

Am 11. April 1945 wurde die Nähe der amerikanischen Truppen spürbar. Gegen Abend griff ein tieffliegender Mustang Jagdbomber einen Güterzug in der Nähe des Bahnhofes an. Den Beschuss mit Bordwaffen und Bomben beobachtete ich aus einem Kilometer Entfernung von unserer Wohnung in der Limbacher Straße 18. Ich war unter den Ersten, die den Schaden am Güterbahnhof besichtigten. Die beschädigten Waggons enthielten Nachschub für die Wehrmacht und Uniformstoff. Bürger fuhren die Stoffe in Leiterwagenmengen nach Hause. Meine Beute: Eine Rolle Uniformstoff, von der meine Mutter Jacken und Hosen nähte. Die Stoffladung war groß. Monate später hatten viele Schwabacher ihre Garderobe in graugrün erneuert. 20 Meter von unserem Haus, gegenüber der damaligen »kleinen Töpferei«, bauten Mitglieder des Volkssturmes eine Panzersperre. Soldaten mit Panzerfäusten besetzten die Töpferei.

Am 16. April half ich beim Verteilen des Weines im Weinkeller Lödel. Meine Aufgabe war, die Fässer im Raum für Wermutwein zu leeren. Ich füllte die Eimer von jedem, der die Kellertreppen herunter kam. Der Weinverschank lief auf vollen Touren, aber manchmal riss die Schlange der Wartenden ab und es gab für mich eine Ruhepause. Gelegenheit, den süßen Wermut direkt am Zapfhahn zu kosten. Am späten Nachmittag lief ich heiter und schwankend nach Hause. Der Geschmack von Wermutwein war mir Jahrzehnte später noch widerlich.

Am 17. April hörte ich das Gerücht, dass das Lagerhaus in der Walpersdorfer Straße zum »Organisieren« von Lebensmitteln offen sei. Schnell rannte ich mit dem Leiterwagen unserer Nachbarin, Frau Göbels, zum Lagerhaus.

Die Szene dort war witzig. Ein bewaffneter Soldat bewachte den Eingang und ließ niemanden passieren. Er unternahm aber nichts gegen die Bürger, die mit leeren Leiterwägen durch den zerbrochenen Zaun zum Silo fuhren und dann vollbeladen mit Lebensmitteln in großen Holzkisten wieder durch den Zaun heraus fuhren. Meine Beute: Eine Kiste mit Bonbons und eine Kiste mit dosiertem Schweinefleisch.

Am 18. April ertönten wieder die Alarmsirenen. Anders als bei den fast täglichen Fliegeralarmen vorher, heulten die Sirenen mindestens fünf Minuten lang auf und ab. Das war der Panzeralarm. Der Angriff der amerikanischen Truppen stand bevor. Eine unheimliche Ruhe setzte ein. Die meisten Bürger blieben zu Hause oder waren im Luftschutzkeller. Die Garnisonsstadt Schwabach soll verteidigt werden. Der Sturm auf eine Stadt, die bis zum letzten Mann verteidigt werden sollte, folgte einer bestimmten Routine: Erst schwere Bombardierung durch Flugzeuge, danach Artilleriebeschuss, bis kein Gebäude mehr stand. Gegen Mittag sah ich Brandwolken über der Kaserne. Während meine Mutter meine Jungvolkuniform verbrannte, schlich ich mich aus dem Haus und fuhr mit dem Fahrrad zur Kaserne, um zu sehen, »was los ist«. Der Wachposten am Eingang war weg und die Gebäude erschienen leer. In der Waffenkammer im ersten Gebäude beim Haupteingang fand ich fünf Pistolen. Ich steckte sie in einen Wäschesack und fuhr wieder Richtung nach Hause.

Oben am Gasberg, in der Höhe der Drei-S-Werke, stand ein deutscher Tiger-Panzer. Neugierde veranlasste mich, durch die offene Luke in den Panzer zu steigen und die Innenausstattung zu besichtigen. Als ich bemerkte, dass sich der Panzer langsam bergab bewegte, sprang ich ab. Vermutlich habe ich beim Herumhantieren die Bremsen gelöst. Schnell rannte ich mit dem Fahrrad nach Hause. Beim Einbiegen in die Städtlerstraße sah ich gerade noch, wie der Panzer in die Autoreparaturwerkstatt der Firma Leuthold fuhr, sie zum Teil zerstörte und dort, mit Ziegelsteinen bedeckt, stecken blieb. Für den Panzerunfall gibt es keine Zeugen und keinen Polizeibericht. Es war niemand auf der Straße.

Zu Hause bezog ich meine Tracht Prügel von der Mutter, weil ich zu einer kritischen Zeit weg war. Wir gingen in den Luftschutzkeller und warteten auf den Angriff der Amerikaner.

Entgegen aller Erwartungen, kam der Angriff dann doch nicht. Stattdessen wurden am Abend des 18. April die Panzersperren beseitigt.

Am folgenden Nachmittag, am 19. April, besetzten die amerikanischen Truppen kampflos die Stadt.

Die Ereignisse am 18. April wurden erst später bekannt. Demnach haben Entscheidungsträger der Stadt beschlossen, die Stadt kampflos zu übergeben, nachdem der Nazi–Bürgermeister Engelhardt aus der Stadt geflüchtet war.

Die Entscheidung war mit großen Risiken verbunden da Einheiten der Waffen-SS jeden standrechtlich erschoss, der von kampfloser Übergabe sprach. Die Amerikaner wussten von dieser Entscheidung nichts und bereiteten für den 19. April einen Fliegerangriff und Artilleriebeschuss der Stadt vor.

Eine Delegation der Stadt fuhr am Morgen des 19. April nach Rednitzhembach, wo die Amerikaner im Kuhrschen Keller ihr Hauptquartier bezogen, um sie zu überzeugen, dass Schwabach tatsächlich zur kampflosen Übergabe bereit sei.

Die Verhandlungen scheiterten zunächst daran, dass angeblich ein Panzer in der Stadt gesehen worden sei. Die Delegierten der Stadt konnten jedoch beteuern, dass der Panzer inzwischen kampfunfähig gemacht wurde. Sicherheitshalber rief der amerikanische Offizier den Divisionsgeneral in Heilbronn an.

Der General stellte den Sachverhalt fest und erklärte, dass gegen einen kampflosen Einmarsch nichts einzuwenden wäre. Stunden später, am Nachmittag des 19. April, nahm eine Einheit der 3. US-Panzerdivision die Stadt ein.

Zufrieden stelle ich heute fest, dass meine Beschädigung des Tiger-Panzers am Nachmittag des 18. April die Glaubwürdigkeit der Schwabacher Bürgerdelegation verstärkte und dass ich damit einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Verschonung von Schwabach leistete.

Auswanderung nach Amerika

1957 wanderte ich nach Amerika aus. Meine zweijährige US-Militärpflicht leistete ich in Deutschland 1959 und 1960 ab. Bei General Pattons alter Einheit, im Hauptquartier der 4. US Panzerdivision, in Göppingen.

In den USA war ich bei Volkswagen of America zuletzt als Verkaufsleiter für ganz Amerika und als General Manager der Porsche-Audi Division bis 1972 tätig. Von 1973 bis 1990 war ich selbständiger Automobilhändler für Porsche, Audi, Fiat und Honda in Milwaukee, Wisconsin, und San Francisco, Kalifornien. Von 1991 bis 2007 Management war ich Berater für USAID (United States Agency for International Development), wo ich in Sambia, Rumänien, Russland, Aserbaidschan, Ukraine, Ruanda, Kasachstan und Lettland Staatsbetriebe, die in Privathand übergingen, nach westlichem Muster reorganisierte.

Meine Verbindung mit Schwabach ist eng. Mindestens einmal im Jahr besuche ich Schwabach, um Verwandte und Schulfreunde zu treffen. Seit 20 Jahren gibt es ein jährliches Klassentreffen mit Schulkameraden aus der Wirtschaftsschule, Abschlussjahrgang 1950, zu organisieren.

Seit 2008 bin ich pensioniert. Ich lebe mit meiner Frau in Sonoma, Kalifornien. WALTER MOSSNER