Sie hoffen, dass der Anruf rechtzeitig kommt

28.9.2017, 19:32 Uhr
Sie hoffen, dass der Anruf rechtzeitig kommt

© Foto: Harald Sippel

Als sich Markus Krüger in seinem Bett aufsetzt und die Beine über den Rand der Matratze hievt, wird der Überwachungsmonitor laut. Schon einfache Bewegungen strengen Krüger an. Weil seine Herzfrequenz über 150 gestiegen ist, löst das System Alarm aus. Marlene Kramer tritt an den Bildschirm, studiert die Kurven und lässt mit einem Knopfdruck den Signalton verstummen.

Markus Krüger ist 43 Jahre alt. Sein gesunder Hautton täuscht – er ist schwer krank. Krüger ist einer von Kramers HU-Patienten. HU bedeutet high urgency, höchste Dringlichkeit. Die zwei Buchstaben sind Fluch und Segen zugleich. Weil zu wenig Organe für Transplantationen zur Verfügung stehen, haben erst jene Patienten die Chance auf ein neues Herz, die sich bereits in einer akut lebensbedrohlichen Lage befinden. Laut der Organisation Eurotransplant, die entscheidet, wer das Organ bekommt, standen im August dieses Jahres 724 Männer und Frauen allein in Deutschland auf der Warteliste.

Die Einstufung als HU war für Krüger ein Wendepunkt. Während seine Herzleistung bisher ausreichte, um daheim auf ein Spenderorgan zu warten und nur für kurze Kontrollen die Klinik zu betreten, wird er nun 24 Stunden am Tag im Krankenhaus überwacht. Krüger war gezwungen, seine Wohnung gegen ein 20 Quadratmeter kleines Zimmer mit angeschlossenem Bad einzutauschen, geliebte Menschen gegen Fremde, die Selbstbestimmung wich dem strikten Krankenhaus-Takt.

In den Körper strömen permanent Medikamente

Bei HU-Patienten werden regelmäßig Puls und Blutdruck gemessen – auch nachts. Die Manschette bleibt daher am Arm. "Durchschlafen ist nicht möglich", sagt er. Wenn Markus Krüger auf die Toilette oder duschen gehen will, muss er das Krankenhauspersonal rufen. Denn er ist nicht nur an einen Überwachungsmonitor angeschlossen, sondern auch an eine Station, aus der permanent Medikamente in seinen Körper fließen – etwa Dobutamin. Der Stoff regt den Herzschlag an.

Die Abhängigkeit und intensive Überwachung schweißen Patienten und Krankenhauspersonal zusammen. "Wir sind wie eine Familie", sagt Marlene Kramer. Die gelernte Krankenschwester aus Oberfranken leitet seit über 25 Jahren die Station B2-1 der Herzchirurgie des Universitätsklinikums Erlangen. Sie hat die Hoheit über 34 Betten. Elf sind für HU-Patienten vorgesehen. "Wir sagen jedem Patienten: Wenn er als HU gelistet ist, soll er sich eine Beschäftigung suchen." Einer, erzählt die 56-Jährige, vertrieb sich die Zeit, indem er Modelle von Traktoren und Kränen zusammensetzte. Ein anderer schrieb ein Buch. Ohne Beschäftigung wird man blöd, sagt Kramer. "Sie können ja nicht die ganze Zeit Fernsehen schauen."

Markus Krüger liest oder skypt mit seiner Schwester. Manchmal guckt er die deutsche Comedyserie "Der Tatortreiniger". In ihr schrubbt der etwas trottelige Heiko Schotte blutbesudelte Bäder und Wohnzimmer und gerät dabei immer in urkomische Situationen. Der Tod als Witz. Ab und an schaltet Krüger zu einem Fußballspiel. Einen Lieblingsverein hat er nicht. Hauptsache der Ball rollt, dann vergeht die Zeit.

Das Herz ist der wichtigste Muskel im Körper. Es liegt leicht schräg,
etwa in der Mitte der Brust. Das Organ ist fast so groß wie die Faust eines Erwachsenen und wiegt durchschnittlich 300 Gramm. Pro Minute pumpt es sechs bis acht Liter Blut durch den Körper und versorgt ihn so mit Sauerstoff.

Sie hoffen, dass der Anruf rechtzeitig kommt

© Foto: privat

Das Herz von Markus Krüger schafft dies schon lange nicht mehr. Seit 14 Jahren leidet er an einer Herzmuskelschwäche. Die Erkrankung mit oft tödlichem Ausgang wurde zufällig bei einer Routineuntersuchung entdeckt. Krüger war zu jenem Zeitpunkt Dachdecker und verpflichtet, sich regelmäßig durchchecken zu lassen. Als er auf dem Rad saß und mit aller Kraft in die Pedale trat, wurde ihm plötzlich schwarz vor Augen. Die Diagnose: nur noch 35 Prozent Herzleistung.

2013 verschlechterte sich sein Zustand. Der linke Herzmuskel arbeitete kaum noch. Die Ärzte setzten ihm einen Defibrillator ein, der elektrische Impulse erzeugte und so das Herz stimulierte. "Es hieß, dadurch bekomme ich mehr Leistung. Aber es ist alles gleichgeblieben", sagt Krüger. In seiner Stimme schwingt keine Traurigkeit mit. Er hat akzeptiert, was er nicht ändern kann. Er braucht ein neues Herz. Punkt. Seit 2015 steht er auf der Transplantationsliste, seit einigen Monaten auch HU hinter seinem Namen.

Marlene Kramer lässt sich in den Stuhl der Überwachungsstation sinken. Durch ein großes Fenster überblickt sie den Aufenthaltsbereich. In den Regalen liegen Gesellschaftsspiele und ein paar Zeitschriften. Ärzte, Schwestern und Pfleger eilen an der Scheibe vorbei. Die Zimmer der HU- Patienten befinden sich direkt neben der Station. Ertönt der Alarm, sind Kramer und ihre Kollegen in nur wenigen Sekunden vor Ort.

Marlene Kramer muss diesen Beruf wohl zutiefst lieben, um nicht an den Schicksalen zu zerbrechen. Der jüngste HU-Patient auf der Station ist erst 19 Jahre alt. Kramer kann sich dennoch keine andere Arbeit vorstellen. "Mir hat schon immer gut gefallen, wenn ich Menschen helfen kann. Ich bin von Haus aus ein hilfsbereiter Mensch." Im Gegensatz zu anderen Stationen mit unheilbar Kranken gäbe es hier Hoffnung, sagt sie. Hoffnung, dass irgendwann das Telefon klingelt – auch wenn dies heißt, dass ein Mensch gestorben ist.

Bis dieser Moment kommt, versucht Kramer, die Patienten und auch deren Familien aufzufangen. Das Warten schweißt zusammen und zermürbt doch zugleich. Manchmal setzt sie sich nach Dienstschluss ans Bett der Patienten, weil während der regulären Arbeitszeit keine Zeit für ein Gespräch war. Ihr ist das wichtig. Manch einer braucht etwa Hilfe bei seiner Patientenverfügung. Sie möchte dann für diesen Menschen da sein. Wer es wünscht, kann auch mit dem Klinikseelsorger sprechen. Doch das tun die wenigsten, erzählt Kramer.

Im Zimmer von Markus Krüger öffnet sich die Tür. Es gibt Mittagessen. Im Gegensatz zu anderen können sich die HU-Patienten ihr Essen aussuchen. Rinderfilet mit Rosenkohl? Suppe mit Brot? Die Küche versucht, jeden Wunsch zu erfüllen. Die Zeit in der Klinik soll ihnen so angenehm wie möglich gemacht werden.

Die Arbeit hat bei Kramer Spuren hinterlassen, hat sie verändert. Das Erlebte relativiert die Probleme jenseits der Klinikmauern. Kramer ist ruhiger geworden, gelassener und demütiger. Sie schüttelt innerlich den Kopf, wenn sich etwa Kunden beim Metzger in die Haare kriegen, wer als nächstes an der Reihe wäre. "Ich denke mir, ich habe alle Zeit der Welt. Ich bin froh, dass ich noch lebe." Früher, in der Ausbildung, hat sie noch geweint, als Menschen starben. "Jetzt weine ich nicht mehr, aber ich träume von den Patienten."

Innerhalb von vier Stunden muss das Herz transplantiert sein

Seit 2000 führt die Herzchirurgische Uniklinik Organtransplantationen durch. Mehr als 200 Männer und Frauen haben seitdem ein neues Herz erhalten. Die Namen vieler Transplantierter kennt Marlene Kramer noch heute. Einige kommen am Jahrestag ihrer Operation in die Klinik und nehmen die Stationsleiterin und ihre Kollegen in den Arm. Andere sieht Kramer – abgesehen von den Routineuntersuchungen danach – nie mehr. Sie nabeln sich ab von der schwierigen Vergangenheit. Für sie hat längst ein neues Leben begonnen.

Ein Jahr und drei Monate. Das war die längste Zeit, die ein HU-Patient in Erlangen auf ein Herz warten musste. Andere warten vergeblich. Es ist
ohnehin ein Glücksspiel – die Chancen sind minimal. Es müssen nicht nur die Blutgruppe von Spender und Empfänger übereinstimmen, sondern auch das Gewicht. Und: Das Herz muss nach dem Tod des Verunglückten innerhalb von vier Stunden im neuen Körper eingesetzt sein.

Angst vor der Operation hat Markus Krüger nicht. "Je länger man hier ist, desto einfacher ist der Gedanke daran." Auch vor dem Tod fürchtet er sich nicht. Als die Ärzte ihm den Defibrillator einsetzten, war er ein bis zwei Minuten klinisch tot. "Ich habe eher Angst davor, ein Pflegefall zu werden."

Dreieinhalb Monate nachdem Markus Krüger zum Dauerpatienten wurde, betritt ein Arzt sein Zimmer. Es ist 21.30 Uhr. Es wurde ein Herz gefunden, sagt der Mediziner. Um 1 Uhr soll die Operation beginnen. Erst wenn das Organ im Krankenhaus angekommen ist, wird mit der Operation
begonnen. Auf dem Weg gibt es zu viele Unwägbarkeiten – das Auto oder der Hubschrauber mit dem diensthabenden Arzt und dem Organ können verunglücken. Das Risiko ist zu groß.

Die Uhr tickt. Um 3 Uhr wird der 43-Jährige durch die leeren Gänge des Krankenhauses in den OP geschoben. Alles ist still. Markus Krüger weiß, was jetzt kommt. In der Nacht zuvor hat er sich eine Herztransplantation auf Youtube angesehen. Als die Narkose wirkt, beginnen die Ärzte damit, sich durch seine Haut und Muskeln zu schneiden. Um das alte Herz zu entfernen, sägen sie das Brustbein auf. Krügers Herz ist mittlerweile extrem groß. Statt zu schlagen, schaukelt es nur noch umher. Es war höchste Zeit. Bis das neue Herz eingesetzt ist, pumpt eine Herz-Lungen-Maschine das Blut durch den Körper.

"Weißt du schon das Neueste?", begrüßt eine Kollegin Marlene Kramer am nächsten Morgen. "Herr Krüger hat ein neues Herz!", antwortet Kramer – mehr wissend als fragend. Sie hat nachts davon geträumt. Der Anruf ist gekommen.

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