Überlebende berichten aus der KZ-Hölle Dachau

2.5.2015, 20:19 Uhr

Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg sind für junge Menschen heute Geschichte. Doch noch gibt es Zeitzeugen, die diese Zeit mit all ihren Schrecken erlebt haben. Einer von ihnen ist Ben Lesser, ein polnischer Jude, der den Holocaust überstand. Mit seiner Familie und anderen Überlebenden will der 86-Jährige an diesem Sonntag im Konzentrationslager Dachau dabei sein, wenn an die Befreiung durch US-Truppen am 29. April 1945 erinnert wird. Zu dem Gedenken wird auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet. 

Lesser saß wenige Wochen vor Kriegsende mit seinem Cousin Isaac in einem völlig überfüllten Güterzug, der sie mit anderen Häftlingen vom KZ Buchenwald nach Dachau bringen sollte. Eine wochenlange Odyssee für die Menschen, die unter entsetzlichem Hunger und Durst litten, während der Zug kreuz und quer durch Deutschland irrte. Zu essen gab es nur etwas Brot und hin und wieder ein wenig Wasser, wie Lesser in seinen Erinnerungen schreibt: „Die meisten Häftlinge starben an Hunger und Krankheiten“. Lesser teilte das Brot für sich und Isaac in winzige Rationen, „etwa so groß wie ein halbes Ei“. Andere Menschen in den Waggons gingen währenddessen qualvoll zugrunde. „Wir schienen auf einem stinkenden See des Todes zu schwimmen“, notiert Lesser in seinen Memoiren. 

Zugwaggons übervoll mit leblosen Körpern

Es war dieser Gestank, der US-Soldaten auf den Todeszug aufmerksam machte, als sie sich am 29. April 1945 dem Dachauer Lager näherten, darunter auch Hilbert Margol von der 42. Rainbow Infanterie-Division. Er und sein Zwillingsbruder zogen los, um nach der Ursache zu suchen, und stießen auf Zugwaggons übervoll mit leblosen Körpern. Erlebnisse, die Margol nicht loslassen. „Es ist immer noch schwer zu verstehen, wie Menschen andere Menschen so grausam behandeln konnten“, sagt er heute. „Leider geschieht das noch heute in anderen Teilen der Welt, wenn auch in kleinerem Rahmen.“ 

Die Grausamkeit der Nazis erlebte auch Joshua Kaufman hautnah. Der Sohn einer ultraorthodoxen Familie aus Ungarn kam im September 1944 von Auschwitz-Birkenau ins Dachauer Außenlager Mühldorf. „Ich hatte vor nichts Angst, ich sagte mir einfach: nein, ich will überleben und ich werde überleben“, sagt er in der Dokumentation „Die Befreier“ des Bezahlsenders History, die dort am 31. Mai um 22 Uhr gezeigt wird. Als Kaufman als 17-Jähriger befreit wurde, habe er den Soldaten die Füße küssen wollen. Doch er sei zu schwach gewesen, bedauert er. „Die Soldaten waren für mich ein Zeichen, dass Gott existiert und er sie uns vom Himmel geschickt hat.“ 

Für viele der bis aufs Skelett abgemagerten Häftlinge eine Rettung in letzter Minute, so auch für den damals 16-Jährigen Lesser. „Ich war nur einen Tag oder Stunden vom Tod entfernt.“ Andere hatten weniger Glück. „3000 Leute waren im Zug, nur 17 waren am Leben und kamen ins Lager“, sagt Lesser, der immer noch Alpträume hat. Doch viele der Befreiten waren schon zu schwach: „Mein Cousin starb drei Tage später in meinen Armen.“ Dennoch sinnt der 86-Jährige, der heute in Las Vegas lebt, nicht auf Rache an den SS-Schergen. „Ich fand, sie hatten verdient, zu sterben. Aber ich wollte mich nicht persönlich rächen. Aber sie sollten dafür bestraft werden, was sie getan hatten.“ 

"Die dünnen, toten Skelette, das waren die Juden"

Überleben ist das eine – klarkommen mit dem Erlebten das andere. „Manchmal schäme ich mich dafür, dass ich am Leben bin“, sagt Kaufman. Auch Lessers Gefühle nach der Befreiung waren gemischt. Er war bis auf die Knochen abgemagert und kaum fähig, zu laufen. Die überschäumende Freude anderer Mithäftlinge teilte er nicht. So sei es vielen Juden gegangen. „Die dünnen, toten Skelette, das waren die Juden.“ Menschen, die alles verloren hatten, Familie, Freunde, ihr Zuhause. Nur das nackte Leben war ihnen geblieben. „Ich war natürlich froh, dass das Töten ein Ende hatte. Aber gleichzeitig war ich traurig“, erklärt Lesser seine Gefühle. „Es gab niemanden, der darauf wartete, uns endlich in die Arme schließen zu können.“ 

Familien haben viele der Überlebenden inzwischen wieder. Kaufman hat vier Töchter, Lesser zwei. Ernest Gross, der in Rumänien als Kind orthodoxer Juden geboren und nach Auschwitz deportiert wurde, hat drei Söhne. Auch zwei seiner Brüder und eine Schwester überlebten. Gross trieb die Frage um, wie die SS-Schergen die Gräueltaten in den Konzentrationslagern mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. „Wie konnten sie leben, all die Jahre, und ihr Leben genießen? Das hat mich 70 Jahre lang verfolgt, wie das passieren konnte.“  Für Ben Lesser ist Rache dennoch keine Antwort. „In meinem Herzen trage ich keinen Hass“. Er setzt auf Versöhnung, Liebe – und auf Erinnerung, etwa mit seinem Internet-Projekten Zachor, hebräisch für Erinnern. Er steht auch mit Rainer Höß, Enkel des berüchtigten Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, in Kontakt. „Er spricht über Toleranz und Liebe. Wir haben mehr als zwei Stunden miteinander telefoniert“, erzählt Lesser. „Es gibt soviel Hass und Übel in der Welt. Jemand muss anfangen, das Gegenteil zu tun.“ 

Auch Vladimir Feierabend aus Prag wirft der jetzigen Generation der Deutschen nichts vor. „Ich habe Hass nur gegen die, die mir etwas getan haben“, erklärt der 90-Jährige Mediziner. 1942 kam er mit 17 Jahren ins KZ, weil die Familie wegen seines politisch aktiven Onkels nach dem Attentat auf SS-Offizier Reinhard Heydrich als verdächtig galt. Über Theresienstadt wurde der Schüler nach
Dachau geschickt, mit seinem Vater und dem 81-jährigen Großvater, der als ältester Häftling in Dachau galt. Dass er am Leben blieb, verdankte der alte Mann seinen Mithäftlingen, die ihn vor der SS versteckten. Sein Enkel Vladimir arbeitete unterdessen in der Schreibstube. Dann kam endlich der 29. April und veränderte alles. „Das Glück der Befreiung war wie ein neuer Geburtstag“, sagt Feierabend.  Wenige Wochen nach dem Krieg war die Familie wieder glücklich vereint in Prag, auch wenn der Großvater nur wenige Tage später starb.

Heute ist Feierabend im Comité International de Dachau. „Ich weiß ziemlich viel, was geschah, aber ich spreche nicht mehr davon“, erklärt er. Viele Erinnerungen seien auch schwächer geworden. „Das Schlimmste, das geht langsam weg. Gottseidank.“

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