Wenn es in der Schule nur Buchstabensuppe gibt

16.9.2018, 13:26 Uhr
Wenn es in der Schule nur Buchstabensuppe gibt

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Zwischen fünf und zehn Prozent der Kinder in Deutschland haben eine Lese- oder Rechenschwäche. In Zahlen klingt das unangenehm, aber nicht bedrohlich. In Menschen klingt es nach etwas, das sich dringend geändert gehört. In jeder dieser ersten Klassen voller naiv-freudiger Kinder, die man mit ihren Schultüten gerade erst aus der Zeitung hat strahlen sehen, sind ein bis zwei Kinder, die Schule bald vor allem als etwas erleben, das sie nicht können. Diejenigen, die sich mit dem Lesen und Rechnen so schwer tun, dass sie nicht hinterherkommen. Noch wissen sie es nicht, aber in den nächsten Monaten und Jahren werden sie feststellen, dass sie sich mit Dingen schwertun, die anderen leichtfallen. Und das wird sie belasten und für ihr weiteres Leben prägen.

Die Angst als Banknachbar

„Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass etwa 40 Prozent der Kinder mit Lese- oder Rechtschreibschwäche Sekundärprobleme haben“, sagt Wolf­ram Jakob. Das bedeutet nichts anderes, als dass diese Angst haben, laut vorzulesen, zum Rechnen an die Tafel gerufen zu werden, dass sie sich als Versager sehen, ein negatives Selbstbild von sich entwerfen, dass sie sich für Ungenügen schämen. Sie wachsen in der Schule mit der Erfahrung auf, ungenügend zu sein. Und das obwohl nach den Erfahrungen Jakobs etwa 90 Prozent aller Lese-und Rechenschwierig-keiten sehr gut behandelt werden könnten. „Zumindest wenn alle mitmachen“, so Jakob. Und dieses „alle“ betrifft nicht nur die Eltern, das Kind und den Trainer, sondern auch die Schule oder den Sozialpsychiatrischen Dienst, der eine Behandlung geneh­migen und dann auch bezahlen lassen kann.

Nicht immer laufe das Zusammenspiel ideal, wie der Diplom-Pädagoge aus seiner 20-jährigen Behandlungserfahrung in der Region weiß. „Ihr Sohn hat Dyskalkulie! Da kann man nichts machen“, erklärte im vergangenen Jahr eine Grundschullehrerin den erschrockenen Eltern in einer Schule in der Region. Eine andere Lehrerin in Altmühlfranken empfahl den Eltern, einen Nachteilsausgleich zu beantragen. Bei einer Rechtschreibschwäche werden dann etwa orthografische Fehler nicht mehr benotet. Das ist kurzfristig hilfreich, Jakob allerdings hält das für eine Kapitulation. „Da geht es ja nicht darum, das Problem zu bekämpfen, sondern nur seine Folgen zu lindern.“ Die Schulen seien leider häufig nicht in der Lage, Grundschulkinder mit abweichenden Lernbedürfnissen adäquat zu fördern.

Wenn es in der Schule nur Buchstabensuppe gibt

© Jan Stephan

In ein allgemeines Schulbashing will er deswegen nicht einfallen. Die Lehrer könnten dafür wenig, das Sys­tem sehe nicht vor, dass man die Kinder individuell fördere, das sei im Alltag schwer zu leisten. Was er sich deswegen wünscht, sei mehr Offenheit vonseiten der Schulen, um den Kindern externe Hilfsmöglichkeiten zu bieten. Die gebe es bei ausgebildeten Pädagogen und Trainern in der Region. Wolfram Jakob hat sich etwa beim Österreichischen Dachverband Legasthenie zum Legasthenie- und Dyskalkulietrainer fortbilden lassen.

Eine erste Anlaufstelle für Eltern könne der Schulpsychologe, der So­zialpsychiatrische Dienst oder das Jugendamt sein. Das könne auch dafür sorgen, dass ein weiterführendes Training bezahlt werde. Etwa wenn als Folge aus der Schwäche seelische Störungen zu befürchten seien, was häufig der Fall ist. Die Bereitschaft zur Kostenübernahme sei allerdings recht unterschiedlich ausgeprägt, so Jakob. In Berlin etwa werde das vergleichsweise schnell genehmigt, in Bayern oder auch Nordrhein-Westfalen sei es eher schwer.

Hilfe von außen sei aber enorm wichtig, weil die Schwächen bei den Kindern individuell sehr unterschiedlich seien. Bis heute ist sich die Wissenschaft immer noch nicht einig, wie man die Problemlagen genau beschreiben soll und von was sie ausgelöst werden. Jakob kann aus dem Stand anspruchsvoll über die Geschichte von Legasthenie und Dyskalkulie referieren. Wie man erst mit dem Beginn der Schulpflicht feststellte, dass sich manche Menschen mit Lesen und Rechnen besonders schwertaten. Wie man sie dann pauschal zu Idioten stempelte, obwohl sie im Schnitt mindestens genauso intelligent sind wie ihre Mitschüler. Erst in den 1950er-Jahren stellte man fest, dass die Probleme mit dem Lesen und dem Rechnen nichts mit der allgemeinen Intel­ligenz zu tun haben.

Seitdem forscht man. „Es ist ein wahrer Wirrwarr an Ansätzen entstanden“, sagt der Fachmann selbst. Für ihn ist kaum einer davon allgemeingültig, weil die einzelnen Fälle so unterschiedlich sein.
Die Mehrheit der Kinder, die mit Problemen zu ihm kommen, seien „mangelhaft beschult worden“, stellt Jakob fest. Das ist keine Schuldzuweisung an die Schule, sondern kann auch daran liegen, dass dem Kind zu Hause die Unterstützung fehlte, dass es längere Zeit im Unterricht fehlte, dass es im Unterricht dauerhaft abgelenkt war . . . „Diese Fälle lassen sich mit einem guten Training recht schnell, recht gut reparieren“, weiß der Langenaltheimer Diplom-Pädagoge.

Komplizierter sind die Fälle, in denen die Lese- oder Rechtschreib-schwäche der Ausfluss einer „differenten Wahrnehmung“ ist, wie sich Jakob ausdrückt. Diese Kinder würden Dinge anders sehen als der „normale“ Rest der Menschheit. Auch hier sei die Bandbreite enorm. Es gibt Kinder, die das Symbol des Buchstabens nicht verstehen, die nicht begreifen, dass er für etwas anderes steht als er selbst ist. Diese Kinder haben oft ein Problem, Strukturen zu erkennen, Vorder- und Hintergrund auf Bildern, Muster etc.

Die Dinge „begreifen“

Übersetzt auf die Mathematik gibt es hier das Problem, dass die Kinder nicht in der Lage sind, die Zahlen in Mengen zu übersetzen. „Sie kennen die Zahl fünf, aber wenn man sie fragt, wie viel Finger an einer Hand sind, müssen sie nachzählen“, sagt Jakob. Hier fehlt die Fähigkeit zur Abstraktion. Sie müssten Mathematik und die Zahlen im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Jakob modelliert dann Zahlen aus Ton mit ihnen oder lässt sie Ziffern in den Sand schreiben. „Es geht dann darum, den Zahlen Dreidimensionalität zu geben, sie müssen die Zahlen spüren, anfassen können, sie im wahrsten Sinne des Wortes begreifen.“

Mit Zeit, einer individuellen Herangehensweise und einem angst- und stressfreien Lernumfeld ließen sich so nahezu alle Lese- oder Rechtschreibschwächen mindestens erheblich mildern. Das bedeutet dann nicht nur bessere Noten in der Schule, sondern vor allem ein seelisch gesundes Kind, das nicht mit dem Versagen als Banknachbarn sein Schulleben fristen muss. Und das ist dann doch einige Mühen wert.  

 

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