Keine Einzelfälle

Mobbing im Schulsport: "Ich habe mich geschämt"

25.3.2021, 06:00 Uhr
Ein Teil des Problems: Sportlehrkräfte haben in ihrer eigenen Kindheit eher zu den leistungsstarken Kindern gezählt - und wissen so nicht aus eigener Erfahrung, wie es ist, sich im Sportunterricht unwohl zu fühlen.

© www.imago-images.de Ein Teil des Problems: Sportlehrkräfte haben in ihrer eigenen Kindheit eher zu den leistungsstarken Kindern gezählt - und wissen so nicht aus eigener Erfahrung, wie es ist, sich im Sportunterricht unwohl zu fühlen.

Derzeit ist Schulsport wegen der Corona-Pandemie kein Thema. Für manche aber sind die Erinnerungen an die Turnhalle immer präsent. "Mein Sportunterricht war oft bloßstellend", sagt Lisa Lassner. Die 29-Jährige ist längst keine Schülerin mehr, spricht aber von Momenten, die sich ihr "sehr stark eingebrannt" haben. Etwa, als sie in ihrer Forchheimer Grundschule Bocksprünge machen sollte: "Alle standen in einer Reihe, jedes Kind musste einzeln über den Bock springen, wenn man es nicht gut geschafft oder Hilfestellung von der Lehrerin gebraucht hat, haben andere gelacht."


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"Ich erinnere mich an eine Situation, wo wir Basketballübungen zur Benotung vormachen mussten", erzählt eine zweite Person aus Nürnberg, die ähnlich alt wie Lassner ist, aber lieber anonym bleiben möchte. Nennen wir sie Ayda Bär. Sie sagt: "Da musste ich vor der ganzen Klasse eine Schrittfolge vormachen, das habe ich überhaupt nicht hinbekommen. Dann hat die Lehrerin gesagt: ‚Mach nochmal, mach nochmal!‘ Aber es war klar, dass ich es auch beim fünften Mal nicht schaffen werde." Vor allem als Jugendliche habe Bär nicht gut mit Bällen gekonnt, ja sogar Angst vor ihnen gehabt. Entsprechend nervös sei sie gewesen, als ihre Fähigkeiten vor der ganzen Klasse bewertet wurden. Sie habe sich sehr ausgeliefert gefühlt.

Negative Erlebnisse im Sportunterricht: Sowohl Lassner als auch Bär kennen noch mehr, denen es ähnlich erging. Kommt das öfter vor? "Dazu gibt es keine belastbaren Zahlen", sagt Martin Röttger. Wenigstens innerhalb einer Stadt sei schon einmal eine Studie durchgeführt worden – dort hatten "nahezu alle Schulkinder etwas zu berichten". Röttger hat Sport auf Lehramt studiert und seine Abschlussarbeit über Schamgefühle im Sportunterricht geschrieben.


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Dass Lassner und Bär ausgerechnet Vorführsituationen unschön in Erinnerung geblieben sind, bezeichnet er als "Klassiker". Dies habe mit einer Besonderheit des Sportunterrichts im Vergleich zu anderen Fächern zu tun: "Schulkinder sitzen hier nicht im Klassenzimmer hinter ihren Schulbänken, sondern sind körperlich exponiert." Röttger spricht von einem "öffentlichen Scheitern", das als "extrem bloßstellend und beschämend" wahrgenommen wird – und lange nachwirkt: "Die Menschen im Alter von Mitte bis Ende 20, die ich für meine Arbeit befragt habe, konnten noch immer ziemlich klar diese Situationen benennen."

Lassner zum Beispiel denkt sich heute oft noch "Boah, ich kann das ja bestimmt nicht", sobald sie eine neue Sportart ausprobiert. "Und das hat schon damit zu tun, dass ich viele negative Erfahrungen im Sportunterricht gemacht habe." Auch Bär beschreibt, wie der Sportunterricht ihren Umgang mit Bällen "schlimmer gemacht" habe. Wenn im Freibad alle Volleyball spielen wollten, habe sie sich davor gefürchtet, ausgegrenzt oder bewertet zu werden. Lange Zeit konnte sie da nicht drüberstehen, ihr gelang es nicht, sich einzugestehen: "Es ist okay, nicht alles zu können."

Geht es zu viel um Leistung?

Vielleicht muss Sportunterricht genau das stärker vermitteln. Beide waren schließlich alles andere als unsportlich. Lassner zählte in ihrer Klasse zu den besten Joggerinnen. Auch Bär war gut im Laufen, trotzdem schreckte sie während ihres späteren Sonderpädagogikstudiums der Gedanke ab, das Fach Sport zu belegen.

Was die Frage aufwirft: Werden umgekehrt vor allem diejenigen Sportlehrer, die zu Schulzeiten in fast jeder Sportart gut waren? Und falls ja, zu was führt das? Röttger bestätigt, dass Sportlehrkräfte "im Zweifelsfall" zu den leistungsstarken Kindern gezählt haben. Ein Bewusstsein für negative Erlebnisse, beispielsweise das lange Warten bei der Mannschaftswahl, sei vielen von ihnen deshalb "zumindest nicht naheliegend". Es wäre aber notwendig, um unangenehmen Momenten vorzubeugen.

Nicht immer nur ein Vergnügen: Dabei sollte im Sportunterricht zunächst doch nur die Lust an der Bewegung gefördert werden.

Nicht immer nur ein Vergnügen: Dabei sollte im Sportunterricht zunächst doch nur die Lust an der Bewegung gefördert werden. © imago sportfotodienst

Auch in Lassners Unterricht bildeten die Kinder selbst die Teams – ihr ist noch gut in Erinnerung, wie sie als Letzte ausgewählt wurde. Röttger kritisiert das als "pädagogisch höchst problematisch", schließlich würden in einem "leistungsbezogenen Sportunterricht" alle ihre Mannschaften so zusammenstellen, dass diese möglichst gut sind.

Im Sportunterricht geht also zu viel um Leistung, kritisieren die Betroffenen. Ihnen wäre es lieber gewesen, wenn der Spaß am Ausprobieren verschiedener Sportarten im Vordergrund gestanden hätte oder die sozialen Fähigkeiten stärker berücksichtigt worden wären.

Schamgefühle auch in der Umkleidekabine

Von einer Abschaffung der Sportnoten rät Röttger jedoch ab, zumindest solange dies nicht ebenso in anderen Fächern geschehe. Stattdessen macht er Vorschläge, wie Lehrer benoten könnten, etwa nur in Kleingruppen, jedenfalls nicht vor versammelter Klasse. Auch die Teambildung ließe sich seiner Meinung nach entschärfen: Wieso nicht einfach ein leistungsunabhängiges Auswahlkriterium wie das Geburtsdatum heranziehen? Immerhin: Er beobachtet, dass auf Letzteres inzwischen häufiger geachtet werde.

Schwieriger wird es, wenn negative Erlebnisse geschehen, ohne dass Lehrkräfte davon etwas mitbekommen. Lassner erzählt aus ihrer Grundschulzeit: "Ich habe mich geschämt, wenn ich mich vor den anderen Kindern umziehen musste. Das hat dazu geführt, dass ich meine Sportklamotten schon drunter an hatte." Der Grund: Sie wurde für ihren Körper angegangen – von ihren Mitschülern.

"Der Sportunterricht existiert ja nicht im luftleeren Raum", sagt Röttger dazu. Schönheitsideale würden auf die sowieso schon vorhandene Unsicherheit vieler Kinder und Jugendlicher über ihren eigenen Körper treffen. Er findet, dass Lehrkräfte hierfür sensibel sein sollten – auch, weil sie häufig selbst ein Idealbild in sich tragen: den perfekten Sportler. Besser sei es, von vielfältigen Schülerinnen und Schülern auszugehen, "die einfach Lust haben, sich zwei Stunden lang zu bewegen". Ohne dabei bloßgestellt zu werden.

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