Übertritt ist eine vorläufige Entscheidung

24.2.2018, 08:00 Uhr
Übertritt ist eine vorläufige Entscheidung

© Patrick Seeger/dpa

Die große Frage ist: Welche Schulart ist für mein Kind geeignet? Worauf sollten Eltern achten?

Reinhard Zehnter: Es gibt relevante Fähigkeiten eines Kindes, welche die Schulleistung beeinflussen: Das ist zum Beispiel die Intelligenz, die Konzentrationsfähigkeit, die Lernfreude, aber auch der aktuelle Wissensstand. Diese Fähigkeiten müssen natürlich zu den Anforderungen der gewählten Schulart passen. Wenn ein Kind ständig überfordert ist, dann ist es irgendwann frustriert, weil es keine guten Leistungen bringen kann. Ist es aber ständig unterfordert, dann kann das zu Langeweile führen. Also: Die Schulart sollte zum Kind passen — und hier hilft das Übertrittszeugnis. Dieses Dokument enthält ausführliche Bemerkungen zum Lern- und Arbeitsverhalten sowie zum Sozialverhalten: Eltern haben damit sehr ausführliche Informationen zur Leistungsfähigkeit ihres Kindes. Und dann gibt es die drei relevanten Noten in Mathematik, Deutsch sowie Heimat- und Sachunterricht — die Schullaufbahnempfehlung im Zeugnis stützt sich auf den Gesamtnotendurchschnitt dieser Fächer. Die meisten Eltern folgen dieser Empfehlung im Übertrittszeugnis.

Mitunter kommt es vor, dass die Noten bestens sind, das Kind aber Angst vor den Proben und Schwierigkeiten mit Leistungsdruck hat.Was raten Sie in so einem Fall?

Zehnter: Wenn ein Kind trotz guter Noten einen übertriebenen Leistungsdruck verspürt, dann müsste man dafür der Sache auf den Grund gehen. Die Staatliche Schulberatung bietet ein niedrigschwelliges Angebot: Hier würde ich den Schulpsychologen ansprechen. Man kann durch Gespräche oder psychologische Diagnostik feststellen, ob tatsächlich eine Prüfungsangst vorliegt.

Eltern haben oft den Wunsch, dass das Kind aufs Gymnasium geht. Ist das immer die beste Wahl?

Zehnter: Das ist eine schwierige Frage! Die Übertrittsquote ans Gymnasium liegt aktuell bei 40 Prozent, auf die Realschule und die Mittelschule gehen jeweils 30 Prozent. Die Fixierung aufs Gymnasium gilt nicht für alle Eltern, sondern nur für manche. Das kann man statistisch gut belegen: Mehr als ein Drittel der Fünftklässler an den Realschulen hat eine gymnasiale Eignung — diese Kinder haben sich bewusst für die Realschule entschieden. Dieser Hype, dass alle Kinder unbedingt aufs Gymnasium müssen, stimmt also nicht unbedingt. Und man sollte wissen: Kinder können auch nach dem Abschluss der Real-, Wirtschafts- oder Mittelschule noch die Fachoberschule oder das Gymnasium besuchen. Und dieser Weg wird von sehr vielen Schülern beschritten.

Können Sie das belegen?

Zehnter: Wir sprechen hier nicht über Rinnsale, sondern über gewaltige Schülerströme. Über 40 Prozent der Hochschulzugangsberechtigungen in Bayern werden auf anderem Weg als dem gymnasialen Abitur erreicht. Insofern gilt: Das Gymnasium ist die schnellste Möglichkeit, an die Hochschulreife zu kommen — aber nicht für jedes Kind unbedingt die beste Wahl.

Das ist eine wichtige Botschaft: Auch Mittel- und Realschüler können zum Abitur kommen.

Zehnter: Ganz nüchtern betrachtet: Der Übertritt ist eine vorläufige, aber keineswegs endgültige Schullaufbahnentscheidung. Eine bestimmte Schulwahl bedeutet nicht das Ende für den weiteren Bildungsweg. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Allgemein gefragt: Wie erleben Kinder den Wechsel auf eine andere Schulart?

Zehnter: Der Abschied von der Grundschule bedeutet eine spürbare Zäsur. Dies wird von den Kindern unterschiedlich schnell und gut verarbeitet.

Man ist plötzlich an einer größeren Schule, man sieht deutlich ältere Schüler, der Schulweg ist anders und oft länger, man hat plötzlich viele männliche Lehrer, der Klassenleiter unterrichtet in ungünstigen Fällen seine Klasse nur vier Stunden in der Woche. Dazu kommen mehr Fächer, mitunter deutlich gestiegene Leistungsanforderungen — und vor allem müssen sich die Kinder in einer neuen Klasse zurechtfinden und sich dort behaupten. Das ist schon sehr viel, was zu leisten ist!

Übertritt ist eine vorläufige Entscheidung

© Marion Müller

Können die Schulen den Start erleichtern?

Zehnter: Die meisten Schulen versuchen, den Neuankömmlingen zu helfen: Da gibt es anfangs etwa Kennenlerntage oder eine Schulhaus-Rallye, in den ersten Tagen ist oft nur der Klassenleiter da. Sehr bewährt haben sich die "Lotsen im Übertrittsverfahren": Das sind Grundschullehrkräfte, die mit einem Teil ihrer Stunden an alle Realschulen und Gymnasien abgeordnet sind und den Kindern bei der Eingewöhnung helfen. Es wird viel getan, trotzdem ist es ein gewisser Einschnitt.

Wie können Eltern helfen, damit der Übertritt möglichst stressfrei gelingt?

Zehnter: Wichtig ist die emotionale Stützfunktion der Familie. Man soll dem Kind zuhören, die Sorgen und Ängste ernst nehmen, beim Lernen helfen — das heißt aber nicht, dass man die Hausaufgaben fürs Kind erledigt! Eltern sollten daheim zum Beispiel für einen vernünftigen Arbeitsplatz sorgen. All das ist viel sinnvoller, als ständig auf die Wunsch-Schulart zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Zudem ist es nicht günstig, wenn Eltern jetzt permanent den Übertritt thematisieren. Ich habe schon Bemerkungen von Eltern gehört, dass der Besuch einer bestimmten Schulart kaum Perspektiven eröffnet. Das ist natürlich fatal! Überzogene und unrealistische Bildungserwartungen erhöhen nachweislich die Stressbelastung der Kinder. Das belegt auch eine Studie einer Würzburger Forschergruppe aus dem Jahr 2014.

Für die Lehrer an der Grundschule ist das Thema auch nicht einfach: Was berichten Ihnen die Pädagogen?

Zehnter: In den letzten Jahren wurde viel unternommen, um die Vergleichbarkeit und Gerechtigkeit des Übertrittverfahrens zu erhöhen. Es wurde eine Richtzahl an Probearbeiten eingeführt - zwölf in Deutsch, je fünf in Mathe und HSU. Diese Arbeiten werden grundsätzlich angekündigt. Es gibt Prüfungsphasen und prüfungsfreie Zeiten. Viele Eltern erkennen auch, dass die meisten Grundschullehrkräfte versuchen, das Übertrittsverfahren für jedes Kind möglichst gerecht zu gestalten. Es gibt aber auch Fälle, wo manche Eltern übertrieben agieren und Lehrer unter Druck setzen. Für die Lehrer ist der Übertritt auch kein Spaß, das muss man klar sagen.

Können Sie hier ein Beispiel nennen?

Zehnter: Manche Eltern hinterfragen alle Aspekte der Notengebung — wie etwa Umfang und Schwierigkeitsgrad einer Probe, die Punkteverteilung, die Korrektur. Doch das Feilschen der Eltern um einen halben Punkt in einer Probe macht überhaupt keinen Sinn. Was viele Eltern nicht wissen: Anders als in Realschule und Gymnasium, sieht die Grundschulordnung keine verbindliche Notenarithmetik vor. Das heißt: Die Zeugnisnoten werden in pädagogischer Verantwortung vom Klassenleiter und den anderen Lehrkräften der Klasse gebildet. Wenn also ein Schüler zwei- oder dreimal sehr knapp in der Probe an der besseren Note vorbeigeschrammt ist, dann kann das der Grundschullehrer sehr wohl berücksichtigen. Käme ein Notenschnitt von 2,7 in einem Fach raus, dann kann er die Note Zwei geben, wenn dies der Leistungsfähigkeit des Schülers entspricht. Die Lehrer nutzen ihren Spielraum in den allermeisten Fällen zugunsten der Schüler aus.

Wer hilft beim Übertritt?

Zum Thema Übertritt wird Beratung auf verschiedenen Ebenen geboten. Zum einen gibt es Informationsveranstaltungen an den Grundschulen sowie an den weiterführenden Schulen. Das Kultusministerium hat auch Broschüren und informiert unter www.km.bayern.de im Netz.

Auch die Staatliche Schulberatungsstelle für Mittelfranken in Nürnberg ist ein guter Ansprechpartner. Leiter Reinhard Zehnter: "Unsere Einrichtung bietet Beratung an und informiert am Standort in der Glockenhofstraße — persönlich oder telefonisch." In Mittelfranken gibt es 370 Beratungslehrer (diese informieren etwa zum Thema Schullaufbahn) und 170 Schulpsychologen (Schwerpunkt unter anderem Hilfen beim Lernen, Lese-Rechtschreib-Störung, Mobbing) an den Schulen.

Die Beratungsstelle in Mittelfranken, Glockenhofstraße 51, ist erreichbar unter Telefon (09 11) 5 86 76 10. Die Einrichtung informiert nicht nur über die Schullaufbahn, sondern hilft bei Lern- und Leistungsschwierigkeiten, bei Verhaltensproblemen, bei Fragen zum zweiten Bildungsweg, bei der Studien- und Berufswahlorientierung, bei Fragen zu besonderen Begabungen und bei schulischen Konflikten. Unter www.schulberatung.bayern.de gibt es weitere Auskünfte.

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