Die Frau mit dem Durchblick

4.9.2010, 22:00 Uhr
Die Frau mit dem Durchblick

© le Claire

Auch vor Aufgaben für Göttersöhne würde sich diese Frau wohl nicht bange machen lassen. Ruhig und gelassen empfängt Daniela Semann ihren Besucher im lichtdurchfluteten Wintergarten, die Beine locker übereinandergeschlagen. Nur die hellwachen Augen hinter der filigranen Brille verraten, dass das Gehirn auf Hochtouren läuft. Sorgsam wählt die 54-Jährige ihre Worte, klar antwortet sie auf Fragen. Hier sitzt eine, die es gewohnt ist, Dingen auf den Grund zu gehen und Struktur in jedes noch so große Chaos zu bringen.

Wie einst Zeus-Sohn Herakles den sprichwörtlichen Augiasstall reinigen? Der Mutter zweier erwachsener Töchter würde man den Job bedenkenlos zutrauen. Tatsächlich nimmt es Semann täglich mit einem Ungetüm auf, für das ein götterähnlicher Ordnungssinn wahrlich vorteilhaft ist: dem deutschen Steuerrecht. In Feucht führt die gebürtige Unterfränkin eine kleine Steuerberaterkanzlei.

Logik, die Spaß macht

Sprachen, sagt Semann, seien nie ihr Ding gewesen. Pause, lächeln. "Mit Zahlen aber kann ich sehr, sehr gut umgehen, hatte schon zu Schulzeiten in Mathe immer gute Noten." Diese Logik, das System, das mache einfach Spaß. "Und den habe ich auch bei der Arbeit mit Steuern, denn dahinter steckt ebenfalls ein Prinzip." Immer auch ist sie die Retterin ihrer Mandanten, wenn die im Wirrwarr der Gesetze den Überblick verlieren. Semann sorgt für den Durchblick. "Wenn jemand durch meine Arbeit viele Steuern rausbekommt, ist das für mich ein Erfolgserlebnis."

Es war dennoch mehr der Kopf denn das Herz, der sie in den Beruf geführt hat. Wer träumt im Sandkasten auch schon davon, einmal Steuerberaterin zu werden? Semann sieht sich von klein auf eigentlich im Hotelgewerbe. Vielleicht würde sie eines Tages die drei elterlichen Häuser in Bad Mergentheim im Taubertal übernehmen? Erste praktische Erfahrungen im Fach hat die junge Frau bereits gesammelt, als sie sich an der Uni Erlangen-Nürnberg für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre einschreibt.

Dann kommt alles anders. Die Eltern geben ihre Hotels ab. Noch lebenslaufverändernder wird aber die Begegnung mit einem jungen Volkswirtschafts-Studenten in der Bibliothek. Es ist der Klassiker: Er spricht sie an, sie will eigentlich lernen, geht doch mit, einen Kaffee trinken. Drei Jahre später tritt Semann mit ihrem Berthold vor den Traualtar, das Studium noch nicht ganz beendet.

Jetzt allerdings steht sie vor einem Problem. "Sie dürfen nicht vergessen, dass das alles schon gute 30 Jahre her ist", erzählt die 54-Jährige rückblickend. "Als Frau musste man sich damals noch viel stärker als heute zwischen Karriere und Familie entscheiden." Plötzlich gewinnt die Idee, als Steuerberaterin zu arbeiten, enorm an Charme. "Wie gesagt, mit Zahlen konnte ich schon immer gut. Und eine Kanzlei lässt sich auch von zu Hause aus betreiben."

1987 eröffnet Semann in Dachau, wohin es die Familie der Arbeit ihres Mannes wegen verschlagen hat, tatsächlich diese eigene Kanzlei. "Es war eine anstrengende, aber auch aufregende Zeit", erinnert sie sich - zumal sie gleich wieder Kisten packen musste. Als der Ehemann einen Job bei Siemens in Erlangen findet, geht es für alle noch im gleichen Jahr nach Feucht. "Berthold ist von hier und wollte einfach wieder zurück."

Führung für Touristen

Nüchtern und präzise erzählt Semann ihre Geschichte, ganz die seriöse Steuerberaterin. Doch dann geht ein Ruck durch ihren Körper. Die Hände erwachen zum Leben, gestikulieren, die Augen sind jetzt nicht nur wach, sie strahlen - und alles wegen einer Frage: Was sie denn mache, wenn sie gerade nicht über den Akten ihrer Mandaten brüte? "Dann bin ich Stadtführerin in Nürnberg und zeige Touristen die wunderschönen Sehenswürdigkeiten", antwortet sie lebhaft.

Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über, wusste schon der Evangelist Lukas. Semann sucht nun nicht mehr lang nach den exakten Formulierungen, sie spricht befreit drauf los. Nürnberg, das ist ihre große Leidenschaft. "Schon beim ersten Besuch hab' ich mich in die Stadt verliebt." Sei sie verreist, bekomme sie spätestens nach einer Woche Heimweh nach Burg, Pegnitz, Lorenzkirche...

"Ich hatte immer das Gefühl, dass Steuerberaterin-Sein noch nicht alles gewesen sein kann", sagt die 54-Jährige. 2005 - die Kinder sind inzwischen aus dem Gröbsten raus - eröffnet sich die Gelegenheit: Der Verein der Gästeführer Nürnberg sucht Stadtführer. Semann lässt sich ausbilden und bringt nun schon seit fünf Jahren Besuchern vor allem die ruhmreiche Wirtschaftshistorie der einstigen Freien Reichsstadt näher. "Jede Führung sollte ein Erlebnis sein. Wenn ich es schaffe, dass die Gäste wieder nach Nürnberg kommen wollen, ist das für mich das größte Geschenk."

Auf immerhin rund 35 Einsätze kommt Semann im Jahr, vor allem im Sommer und in der Adventszeit. Noch steht zwar der Job als Steuerberaterin im Vordergrund. "Aber wenn ich mal älter bin, kann ich mir gut vorstellen, die Stadtführungen zur Haupttätigkeit zu machen."

Auch dabei sind reichlich neue Herausforderungen garantiert. Ein Gast fragte gar mal nach der Tonart, in der das Glockenspiel beim Männleinlaufen erklingt. "Es gibt nichts, wonach nicht gefragt wird", staunt die 54-Jährige.

Ach ja: "In gar keiner Tonart. Musiker sprechen schlicht von einem ,Glockenlaut' ", sagt Semann. Schon wieder eine Unklarheit beseitigt.