Hercules weckt Leidenschaft

18.6.2011, 00:00 Uhr
Hercules weckt Leidenschaft

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Die zwei bemerkenswertesten Aspekte vorweg: Hercules und Sachs, einst in ihren Produkten eine große Einheit, sind heute Konkurrenten auf dem Mopedmarkt — wobei beider Fertigung, bis auf ein Mini-Segment, nicht mehr in Deutschland steht. Die zweite Besonderheit: Elektrofahrzeuge, die großen Hoffnungsträger unserer Zeit, brachte Hercules schon vor 122 Jahren auf den Markt.

Hercules weckt Leidenschaft

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Doch der Reihe nach: Der große Pionier war Carl Marschütz. Er fertigte zunächst in Neumarkt die allerersten Velocipeds, Hochräder, die wenig später in Nürnberg an der Fürther Straße produziert wurden.

Marschütz‘ Vision war das Zweirad für alle, ein Volksfahrrad gewissermaßen. Dazu gründet er 1886 mit 22 Jahren die Velocipedfabrik Marschütz & Co., die erste Fahrradfabrik Nürnbergs, nach „Express“ die zweitälteste auf dem ganzen europäischen Kontinent. Zu Beginn baute er mit zehn Arbeitern Hochräder. Auf ihnen heil von A nach B zu kommen, bedeutete allerdings eine enorme Herausforderung nicht nur für den Gleichgewichtssinn.

Matthias Murko, Leiter des Museums Industriekultur, berichtet von Beigaben für Radkäufer wie „Knallerbsen als Hundeschreck — es herrschte Krieg auf den Straßen“. Wegen vieler Kopfstürze aus anderthalb Metern Höhe wurde der Fahrrad-Führerschein eingeführt. Zum Üben errichtete Marschütz sein Hercules-Velodrom an dem Ort, wo heute das Nürnberger Schauspielhaus steht.

Nach und nach siedelten sich an der Fürther Straße drei weitere Zweirad-Fabrikanten an, darunter Triumph. Um 1905 herum stammten vier von fünf Rädern in Bayern aus Werkhallen der Fahrradhochburg Nürnberg. 10000 Menschen gab dieser Industriezweig hier Lohn und Brot.

Die Wurzeln für dieses „Kompetenzfeld“, wie man heute sagen würde, lagen im vorindustriellen Nürnberg, als sich der Schwerpunkt der Metallbearbeitung entwickelte. Doch die Ära der Hochräder währte nur kurz. Zum Massenphänomen wurde erst das Niederrad: „Es war ja das erste individuelle Vehikel für die Massen“, erzählt Murko. Die Möglichkeit, eigenständig größere Distanzen zurückzulegen, habe auch zur Emanzipation der Frau beigetragen.

Gut 100 Jahre später steht die Marke Hercules in Deutschland immer noch für solide, komfortable Produkte. Doch gefertigt wird seit Jahrzehnten nicht mehr in Nürnberg, sondern in erster Linie in Ungarn, 100 Kilometer hinter Budapest.

Motor hilft über den Berg

Der Nabel der Hercules-Welt ist heute Schweinfurt. Am Deutschland-Sitz der holländischen Accell Group arbeiten noch rund 40 Menschen für Hercules. Genau drei Mitarbeiter sind noch aus den alten Nürnberger Hercules-Zeiten an Bord. Hercules sei eine „nach wie vor eigenständige Marke“ unter dem Accell-Konzerndach, neben Schwestern namens Winora, Staiger und Hai Bike, berichtet Vertriebschef Mario Moeschler.

Die größte Freude bereiten ihm heute die Pedelecs, motorunterstützte Zweiräder. Die ersten Modelle kamen bereits 1985 auf den Markt. Die Muskelkraft wird vom Motor genutzt, das heißt: Während der Radler in die Pedale tritt, wird die Lithium-Ionen-Batterie aufgeladen — je stärker, desto größer die Reichweite, nämlich maximal 100 Kilometer. Immerhin 40 Kilometer weit und 40 Stundenkilometer schnell konnte man einst mit etwas Glück in der viersitzigen „Electro-Chaise“ von Hercules kommen. Das war 1889, also vor 122 Jahren. Wer glaubt, Elektromobilität sei eine Erfindung des 21. Jahrhunderts, irrt gewaltig.

Viele Herren hat das Unternehmen kommen und gehen sehen: der Apotheker und Hustenbonbon-Hersteller Carl Soldan rangierte im Motorrad-Zeitalter von Hercules darunter, ebenso wie Max Grundig, dessen Vater einst Meister bei Hercules gewesen war. 1963 wechselte der Zweirad-Hersteller zu Fichtel & Sachs und zog ein paar Jahre später um in die Nürnberger Nopitschstraße, auf das Gelände der ehemaligen Victoria-Werke. Wegen zusätzlicher Produkte schwoll die Belegschaft von 380 auf zeitweilig 1000 Mitarbeiter an.

1995 spalteten sich die traditionsreichen Hercules-Werke in Nürnberg in zwei voneinander unabhängige Firmen: Das Fahrradgeschäft übernahm die niederländische Atag-Gruppe (heute: Accell Group). Der motorisierte Teil wurde umgetauft in Sachs Fahrzeug- und Motorentechnik GmbH und verblieb vorerst in der Fichtel-&-Sachs-Gruppe unter dem Konzerndach von Mannesmann.

Auf der linken Seite des riesigen Firmenareals an der Nopitschstraße werkelte fortan Hercules, rechts Sachs. Doch das Nebeneinander der getrennten Marken war nicht von Dauer: 1999 kehrte Hercules Nürnberg den Rücken und zog mit der von 380 (im Jahr 1995) auf inzwischen 170 Mitarbeiter geschrumpften Belegschaft nach Neuhof an der Zenn. Von dort ging die Wanderschaft 2007 weiter nach Schweinfurt. In Neuhof ist nur noch ein Lager geblieben.

400 Saxonetten aus Katzwang

Harte Zeiten machte die Sachs Motoren- und Fahrzeugtechnik GmbH durch. Mit dabei waren zwei Insolvenzen samt Management-Buyouts. Seitdem ein Investor aus Hongkong eingestiegen war, heißt der Nachfolger von Sachs SMF. Von der früheren Sachs-Mannschaft, so Sprecherin Lola Mugosa, sind von den 34 Beschäftigten insgesamt heute noch rund 20 an Bord — auch der langjährige Technikchef und Entwickler. Fast die gesamte Produktpalette von Elektrofahrrädern bis zu Scootern wird heute in China produziert. Immerhin fertigt SMF immer noch die gute alte Saxonette, ein Leichtmofa, am Firmensitz in Nürnberg-Katzwang. 400 Stück davon werden, in neuem Gewand, pro Jahr ausgeliefert.

Nach 1995 ging’s mit Hercules bergab, in vielen Wellen wurde Personal abgebaut, erinnert sich Franz Hartmann. 30 Jahre lang hatte er bei Hercules gearbeitet. „Im alten Werk an der Fürther Straße ging es familiär-gemütlich zu“, erzählt der heute 71-Jährige. Lange Zeit reparierte er in der Fabrik für Privatkunden Motorräder („Das ging damals noch“). Seine Leidenschaft für Motorräder und Mopeds brennt bis heute. Der Rentner unterhält sogar ein kleines Privatmuseum in Wüstenstein bei Streitberg. Zum großen Hercules-Jubiläumstreffen im Museum Industriekultur am kommenden Wochenende (24. bis 26. Juni) bringt Hartmann vier Exponate nach Nürnberg mit.

Bildergalerie unter www.nn.de

Zum 125. Geburtstag von Hercules treffen sich die Liebhaber historischer Sachs-, Wankel- und Express-Motorräder tagsüber im Museum Industriekultur, veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Hercules-Interessengemeinschaft.