Hilfe zur Selbsthilfe: "Der Verkäufer steht im Mittelpunkt"

7.7.2016, 17:50 Uhr
Hilfe zur Selbsthilfe:

© Foto: INSP.ngo/Giannis Zindrilis

„Das Großartigste hier“, sagt Thiago Massagardi, „ist, dass du realisierst, dass du nicht in einer einsamen Blase lebst und arbeitest, sondern in einer riesengroßen Familie, die über die ganze Welt verstreut das gleiche Ziel verfolgt.“ Der 36-Jährige ist extra aus Sao Paulo, Brasilien angereist, um am fünftägigen Gipfel der internationalen Vereinigung der Straßenmagazine (INSP) teilzunehmen – mitnichten hat Massagardi damit die weiteste Anreise.

Aus Kanada kommen die Delegierten, aus Taiwan, Südafrika, aus Australien, aber freilich auch überall aus Europa; allein aus Deutschland sind 21 der insgesamt rund 120 Teilnehmer angereist. Doch längst nicht jeder, der von sich behauptet, ein Straßenmagazin zu erstellen und zu verkaufen, ist auch berechtigt, ein Teil des Verbands zu werden. Voraussetzung sind bestimmte Kriterien, die es zu erfüllen und einzuhalten gilt.

„Straßenzeitungen müssen auf dem Prinzip der Selbsthilfe beruhen“, heißt es in den INSP-Statuten, „das heißt, sie müssen ausgegrenzte Menschen dazu befähigen, sich selbst zu helfen und wieder in die Gesellschaft zu integrieren.“

Auch, dass Betteln der Verkäufer verboten ist, mindestens 50 Prozent des Verkaufspreises an den Verkäufer gehen muss oder Gebietsschutz besteht, ist in den Kriterien festgehalten. Darüber wacht ein international besetztes Gremium, Thiago Massagardi ist als Vorstand des Vereins „Revista Ocas“ einer von ihnen.

Athen ist groß, laut, heiß

Gewacht wird bei der Konferenz allemal mehr als geschlafen. Athen ist groß, laut, heiß, die Delegierten – Journalisten, Projektkoordinatoren, Verkäufer, Fundraiser — also diejenigen, die für die Beschaffung von Spendengeldern zuständig sind – sind vollauf beschäftigt. „112 Straßenzeitungen aus 35 Ländern sind derzeit bei uns organisiert“, erläutert Maree Adams, Generaldirektorin von INSP. 25 000 Verkäufer waren im letzten Jahr beschäftigt, haben 5,7 Millionen Leser mit Magazinen versorgt und dabei 29,4 Millionen Euro verdient – der Verkäufer, das ist klar, steht bei allen Projekten im Mittelpunkt, „die Verkäufer sind unsere Chefs“, heißt es immer wieder.

Um sie dreht sich alles. Die grundsätzliche Frage dabei: Wie kann man in Not, in finanzielle Schieflage geratene Menschen wieder auf die richtige Bahn bringen, wie ihnen einen Lebensinhalt, eine Aufgabe ermöglichen? Und wie kann man auf ihre Lage aufmerksam machen? So rückt die aufsehenerregende Kino-Kampagne „The Invisible Man“ der dänischen Hus Forbi mit einem für alle Straßenzeitungen zentrales Thema in den Fokus: Verkäufer fühlen sich oft wie unsichtbar.

Viel Beachtung erfährt auch die griechische Zeitung Shedia, sie hat in Kooperation mit der Universität Seidenraupen in den Büroräumen installiert. Die werden von den Verkäufern gefüttert, gepflegt, und nach der Verpuppung werden aus den Kokons Seifen und Garne hergestellt. „Das ermöglicht den Menschen sowohl eine Verantwortung als auch ein Ziel gleichzeitig“, erklärt Chefredakteur Christos Alefantis, während seine deutsche Frau Katrin zeigt, wie aus unverkauften Magazinen wunderschöne Dekorationselemente produziert werden können.

Etabliert in verschiedenen Städten haben sich Stadtführungen, die wichtige Orte der Armut und Obdachlosigkeit zeigen. In Athen heißt das „Invisible City Tour“, in Nürnberg bietet das Sozialmagazin Straßenkreuzer mit den „Schicht-Wechsel-Führungen“ Ähnliches an.

Lob für fränkische CD

Apropos Straßenkreuzer: Seine CD, für die ausgesuchte Bands und Musiker aus dem Großraum Nürnberg regelmäßig Lieder spenden, wird bei den „INSP Awards 2016“ als herausragend befunden. Einen ersten Preis für ihr Engagement im Umgang mit Roma erhält die Ruhrgebietszeitung bodo. Die Macher sahen sich, wie überall in Deutschland, mit einer wachsenden negativen Stimmung gegen die Bevölkerungsgruppe konfrontiert.

Jahrelange intensive Lobbyarbeit, Infoveranstaltungen, die Gründung eines Netzwerkes und des Projekts „Freundeskreis Roma und nEUbürger“ haben zu einem Klimawandel beigetragen, der jetzt sogar ein von der Stadt organisiertes Roma-Festival ermöglicht. Und die Botschaft auch hier: Unsere Aufgabe ist es, gegen Armut anzugehen – egal, woher die kommt.

 

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