Moderne Antiquariate im Würgegriff von Amazon

21.1.2016, 13:05 Uhr
Moderne Antiquariate im Würgegriff von Amazon

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Man musste Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts nicht unbedingt ein ausgemachter Technikmuffel gewesen sein, um das Potenzial des Internets gewaltig zu unterschätzen. „Ich konnte mir lange nicht vorstellen, dass das für mich was bringt“, sagt Tom Deuerlein. Anfang 30 war der Nürnberger damals. Er hatte eine solide Ausbildung als Sortimentsbuchhändler in der Fürther Buchhandlung Klaußner hinter sich und betrieb seit ein paar Jahren ein eigenes Antiquariat.

Wie Pilze aus dem Boden geschossen waren in den 70er und 80er Jahren solche Läden. Zu günstigen Preisen konnte man dort Bücher mit kleinen Herstellungsmängeln, Remittenden, verramschte Restauflagen und gebrauchte Bücher kaufen. Deuerlein hatte sich beim modernen Antiquariat auf Norica, Kunst und Architektur spezialisiert, und er handelte daneben auch mit bibliophilen Sammlerstücken. Für eine schöne dreibändige Platen-Gesamtausgabe von 1853 konnte der Händler schon mal ein paar Hundert Mark erlösen. Er wusste, welchem der bald zur Stammkundschaft zählenden Sammler aus der Region er so etwas anbieten konnte. Das Geschäft lief ordentlich. Was sollte Deuerlein da mit dem Internet?

"So gut wie tot"

Nach ein paar Jahren kapierte der Antiquar, welche Chancen ihm das weltweite Netz bot. „Ich konnte so eine Platen-Gesamtausgabe, wenn sie meine Sammler vor Ort schon alle hatten, plötzlich irgendwohin verkaufen. Das war toll.“ Deuerlein meldete sich auf der Internetplattform ZVAB (Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher) an, die drei Berliner Studenten gegründet hatten und die aus lokalen Antiquariaten überregionale Buchhändler machte.

Der Rest der Geschichte im Zeitraffer: Das Bücherangebot von ZVAB wuchs bis in den zweistelligen Millionenbereich hinein. 2011 wurde das Portal vom Konkurrenten AbeBooks übernommen, der seinerseits schon seit 2008 zum Firmenportfolio des Internet-Giganten Amazon gehörte. Und damit wäre dann auch der Name gefallen, der nicht nur nach Überzeugung Deuerleins für das Problem steht, dass inzwischen „das moderne Antiquariat so gut wie tot ist“.

Rund 25 000 Bücher hat Tom Deuerlein auf Lager. Ein Bruchteil steht in seinem vor elf Jahren bezogenen „Buch Wein Caffé“-Ladenlokal in der Lorenzer Straße. „Die meisten davon werde ich bis an mein Lebensende nicht verkaufen“, sagt der 52-Jährige mit nüchternem Realismus. Vor ein paar Jahren war er ein Antiquar, der nebenbei einen der besten Espressos der Stadt verkaufte. Heute ist er Betreiber einer italophilen Café-Bar, die ihren Charme raumhohen und dicht gefüllten, mit Glastüren verschlossenen Buchregalen verdankt.

Dieser cleveren, kleinen Diversifizierung verdankt Deuerlein sein geschäftliches Überleben. Andere Kollegen haben längst das Handtuch geworfen. Oder schlagen sich – wie Martin Klaußner, der ehemalige Lehrherr Tom Deuerleins – eher schlecht als recht durch die rauen Zeiten. Klaußner hatte schon 1993 seine Buchhandlung verkauft und sich auf ein modernes Antiquariat zurückgezogen. Heute schimpft er über den „Bücher-Tsunami“, in dem Händler wie er regelrecht abzusaufen drohen.

Tatsächlich werden derzeit in Deutschland nicht nur astronomisch hohe Geld- und Immobilienvermögen vererbt, sondern auch jede Menge Privatbibliotheken an die nächste Generation weitergereicht. Und die hat häufig weder Platz für 1000 oder 2000 zusätzliche Bücher noch das Interesse an all der Nachkriegs-Belletristik, die meist den Großteil solcher Nachlasse ausmacht. Die Erben bieten den Bücherschatz der Eltern Antiquariaten an und bekommen meist dieselbe enttäuschende Auskunft: „Wir können das schon abholen, aber nichts dafür bezahlen.“

Freude an Büchern verloren

Wenn man den alten Buchhändler Martin Klaußner aus Fürth auf das Problem anspricht, klingt er, als hätte er angesichts dieser „Schwemme“ seine ganze Freude an Büchern verloren. „Ich habe in diesem Jahr 100 Bananenkisten voller Bücher verschenkt“, erzählt er. „Günter Grass, Gabriele Wohmann und die ganzen Gruppe-47-Autoren – das will heute kein Schwein mehr kaufen. Die Klassiker auch nicht. Der Geschmack hat sich völlig verwandelt.“

Klaußner wird angesichts des Werteverfalls bei der Massenware Buch zum finsteren Kulturpessimisten. „Seit der Wiedervereinigung hat sich die Gesellschaft verändert“, konstatiert er. „Es geht immer stärker in die Richtung Spaßgesellschaft. Theoriediskussionen, die früher nicht nur die Jugend bewegt, sondern auch ganze Buchreihen gefüllt und moderne Antiquariate ernährt hatten, spielen kaum mehr eine Rolle. „Linke Literatur“, sagt Klaußner, „Bücher zu den Themen Sozialismus, Anarchismus können Sie heute nur noch nach ihrem Brennwert beurteilen.“

Im Netz sind solche Bücher für Cent-Beträge zu haben. Das beste Geschäft macht dabei das jeweilige Internet-Portal. Denn wenn Händler beispielsweise bei Amazon Titel anbieten, müssen sie die Hälfte der Versandpauschale von drei Euro an den Internet-Riesen abführen. Verpackung, Versand und Rechnungsstellung bleiben allerdings an ihnen selbst hängen. Für den Antiquar rentieren sich solche Verkäufe nicht. Für Amazon dagegen macht in der Masse auch solches Kleinvieh Mist.

Ahnungslose Konkurrenz

Und wenn man als Antiquar ein schönes, liebevoll gestaltetes Buch aus dem 19. Jahrhundert für ausgesprochen angemessene 80 Euro online anbietet, erlebt man oft ein anderes Ärgernis. „Da steht man dann plötzlich in Konkurrenz zum Privatanbieter, der das gleiche Buch der Oma aus dem Bücherschrank geklaut hat und es im Internet schwarz verkauft“, erzählt Tom Deuerlein. Sein Ex-Chef und Kollege Martin Klaußner stimmt mit ein und schimpft auf die vielen fachlich völlig ahnungslosen Haushaltsauflöser („Alles Idioten“), die für den kleinen antiquarischen Schatz dann im Netz nicht 80, sondern nur zehn Euro verlangten.

„Interessant“, sagt Klaußner, „wird es erst wieder mit Büchern von 5000 Euro aufwärts.“ Aber Erstausgaben von Goethes Werther und andere Kostbarkeiten sind nun mal rar. Für Klaußner steht fest: „Die Zukunft des Antiquariats hat sich erledigt.“

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