Nach Brexit-Votum: Berlin für rasche Austrittsgespräche

27.6.2016, 21:08 Uhr
Die Briten haben in einem Referendum für den Austritt aus der EU gestimmt. Nun muss ein Zeitplan her.

© dpa Die Briten haben in einem Referendum für den Austritt aus der EU gestimmt. Nun muss ein Zeitplan her.

Unmittelbar vor dem EU-Gipfel setzt Berlin die britische Regierung im Streit um die Austrittsverhandlungen unter Handlungsdruck. Mit Spannung wird erwartet, wann Großbritannien seinen Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union stellen will. Premierminister David Cameron hatte seinen Rücktritt bis Oktober angekündigt und erklärt, sein Nachfolger solle die Verhandlungen über den Ausstieg aus der EU übernehmen.

Offizielle Austrittsgespräche sollten erst aufgenommen werden, wenn Großbritannien eine Entscheidung über die Art seiner künftigen Beziehung zur EU getroffen habe, sagte Cameron am Montag vor dem Parlament in London.

Das geht dem EU-Parlament und den Außenminister der sechs Gründungsstaaten der europäischen Gemeinschaft aber nicht schnell genug. Sie wollen rasche Gespräche über den Ausstieg, um weitere Turbulenzen zu vermeiden.

"Die Bundesregierung will keine Hängepartie", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Der SPD ist auch diese Ansage zu wenig. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Das Signal der Staats- und Regierungschefs muss lauten: Klarheit statt Taktiererei, entschlossenes Handeln statt Zaudern."

Johnson: Keine Eile

London will sich aber nicht unter Zeitdruck setzen lassen und möchte bereits vor dem offiziellen Antrag Vorgespräche mit Brüssel führen. Die Briten sollen nach Meinung des Brexit-Wortführers Boris Johnson auch weiterhin die Vorteile der EU nutzen können. Johnson - ein Anwärter für den Posten des Premierministers - geht davon aus, dass Großbritannien auch nach dem Brexit vom europäischen Binnenmarkt und der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren wird. "Es gibt keine Eile", hatte der frühere Londoner Bürgermeister erklärt.

Auch Finanzminister George Osborne betonte, formelle Verhandlungen könnten erst beginnen, wenn in London ein neuer Premierminister im Amt sei und "eine klare Sicht davon da ist, welches neue Abkommen wir mit unseren europäischen Partnern suchen". Das würde bedeuten, dass erst nach Camerons Rücktritt im Oktober verhandelt würde.

Regierungssprecher Seibert verwies darauf, dass nach Artikel 50 der europäischen Verträge die Mitteilung über einen Austritt nur von Großbritannien selbst kommen könne. Zugleich machte er deutlich, dass die Bundesregierung nicht übermäßig lange darauf warten will. Wenn die britische Regierung dafür allerdings "noch eine überschaubare Zeit" brauche, werde das respektiert.

Kräfte des Zusammenhalts stärken

Er schloss konkrete Vorgespräche mit London über das Abschiedsverfahren aus. "Bevor Großbritannien diese Mitteilung geschickt hat, gibt es keine informellen Gespräche über die Austrittsmodalitäten. Die Reihenfolge muss eingehalten werden", stellte Seibert klar. Jetzt müsse alles dafür getan werden, "nicht die Fliehkräfte in Europa zu stärken, sondern die Kräfte des Zusammenhalts".

Genau darum macht sich Gabriel Sorgen. Wenn zuviel Zeit vergehe, würden die Fliehkräfte in Europa, sagte er. Das würde Rechtspopulisten in die Hände spielen: "Das Brexit-Referendum hat Großbritannien gespalten. Damit der Brexit nicht auch Europa spaltet, müssen die Staats- und Regierungschef jetzt schnell für Klarheit sorgen." Die britische Regierung müsse schnell das Austrittsverfahren einleiten.

Cameron - der große Verlierer des EU-Referendums - wird auf einer Parlamentssitzung am Montag eine Erklärung abgeben. Er hatte bereits klargemacht, dass er in den verbleibenden rund drei Monaten seiner Amtszeit persönlich keine Austrittsverhandlungen führen will.

Die Briten würden auch weiterhin in der Lage sein, in der EU zu reisen, zu arbeiten, Häuser zu kaufen und sich niederzulassen, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im "Daily Telegraph" (Montag). Dagegen werde London keine substanzielle Geldsumme mehr an Brüssel überwiesen, meinte er.

Das Geld solle stattdessen in das nationale Gesundheitswesen fließen. Zugleich werde Großbritannien eine "demokratische Kontrolle über die Einwanderungspolitik übernehmen". London werde sich, wenn auch nur langsam, von der "unmäßigen und undurchsichtigen" Gesetzgebung der EU befreien, meinte Johnson.

Derweil kämpft der britische Oppositionschef Jeremy Corbyn um sein politisches Überleben. Über die Hälfte seiner Schattenminister sind von ihren Posten zurückgetreten, um den Druck auf den Parteichef zu erhöhen. Sie werfen ihm mangelndes Engagement im Brexit-Wahlkampf vor und bezweifeln, dass der 67-Jährige bei Neuwahlen ein Zugpferd für die Partei wäre.

Corbyn will kämpfen

Dagegen machte Corbyn klar, dass er kämpfen und ein neues Schattenkabinett aufstellen wolle. Am Montagabend (19 MESZ) dürfte es bei einer Fraktionssitzung zu einem offenen Schlagabtausch kommen. Corbyn ist seit Spätsommer 2015 Parteichef und gilt als ausgesprochener Linker - er hat seit langem viele Kritiker in Partei und Fraktion.  

Am Montagvormittag empfing Frankreichs Präsident François Hollande den EU-Ratspräsidenten Donald Tusk im Pariser Élyséepalast. Auch nach dem etwa einstündigen Treffen gab es keine Stellungnahmen. Sowohl Hollande als auch Tusk wurden noch am Montag in Berlin bei Bundeskanzlerin Angela Merkel zu getrennten Gesprächen erwartet. Beim Treffen von Merkel und Hollande sollte auch Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi dabei sein, mit dem Hollande am Samstagabend in Paris zusammengekommen war.

Cameron lehnt eine zweite Abstimmung ab

Premierminister Cameron hat Bestrebungen, einen Austritt des Landes aus der EU doch noch abzuwenden, eine Absage erteilt. "Die Entscheidung muss akzeptiert werden und der Prozess, die Entscheidung bestmöglich umzusetzen, muss jetzt beginnen", sagte Cameron am Montag den Abgeordneten des britischen Unterhauses. Viele Briten hatten eine zweite Abstimmung gefordert. Rechtlich ist das Votum nicht zwingend bindend.

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