Leid und Lügen: 80 Jahre Pogrom in Treuchtlingen

6.11.2018, 06:04 Uhr
Leid und Lügen: 80 Jahre Pogrom in Treuchtlingen

© TK-Archiv/Viola De Geare

Es ist ein Samstag. Nicht irgendein Samstag, es ist der 19. November 1938. Die Reichspogromnacht, in der jüdische Einrichtungen, Synagogen, Wohn- und Geschäftshäuser niedergebrannt, geplündert und geschändet, ihre Bewohner misshandelt und ermordert wurden, liegt gerade zehn Tage zurück.

An diesem Samstag erscheint ein Artikel im Treuchtlinger Kurier. Nicht über die misshandelten, ermordeten oder in den Tod getriebenen Juden in der Pogromnacht, die später wegen der vielen zerbrochenen Fensterscheiben euphemistisch als „Reichskris­tallnacht“ bezeichnet wird. Vielmehr schreibt die Zeitung über das Unverständnis angesichts der internationalen Reaktion. Sarkastisch heißt es dort: „Abgeordnete, Zeitungsmänner, Geistliche und Rundfunksprecher entfalteten einen Eifer, als stehe die Welt vor einem neuerlichen Angriff schwerbewaffneter Marsmenschen.“

Auch die Scherben kommen in dem Bericht aus Berlin vor, abgedruckt auf Seite vier der Jahresnummer 270 des Treuchtlinger Kuriers. Doch sie dienen der Verharmlosung der Zerstörungen: „Und das alles wegen ein paar zerbrochener Fensterscheiben und einer Kontribution, wie sie in vervielfachtem Umfange zur üblichen Praxis, beispielsweise im britischen Reich, gehört“, gibt sich der Autor überrascht.

Der Ton ist schon mit der Überschrift des Artikels gesetzt. „Der Bluff mit den ausgeplünderten Juden“, steht da. Im Vorspann heißt es weiter: „Zahlen gegen Märchen – Hunderte von millionenschweren Juden lebten ungestört während sechsjähriger nationalsozialistischer Herrschaft – Weitgehender Profit der Juden aus dem Wirtschaftsaufschwung des neuen Deutschland.“

Sucht man in den TK-Ausgaben vom 10., 11. und 12. November 1938 nach Hinweisen auf den marodierenden Menschenmob, der kurz zuvor die Häuser seiner jüdischen Mitbürger heimgesucht, zerstört und in Brand gesteckt, der gestohlen und mancherorts sogar gemordet hatte, sucht man vergebens. Doch auch in Treuchtlingen hatte sich die SA vor der Synagoge versammelt und sie angezündet.

„Keinem Juden ein Haar gekrümmt“

Stattdessen liest man am Samstag, 12. November 1938, zwei Tage nach den grausamen Verbrechen, auf der ersten Seite unter dem Titel „Befasst sich das Unterhaus mit der Judenfrage in Deutschland?“ einen verteidigenden Artikel. Er beschäftigt sich damit, „dass gewisse englische Kreise beabsichtigen, auf dem Wege der Umfrage an den Premierminister Chamberlain das Unterhaus mit der Judenfrage in Deutschland zu befassen“.

Eher versteckt finden sich dann aber doch Hinweise auf die Pogromnacht: Die „Vergeltungsaktion“ gegen die Juden sei noch in einer „äußerst disziplinierten Form“ vollzogen worden. Reichsminister Joseph Goebbels habe noch am selben Tag an die Bevölkerung die strenge Aufforderung erlassen, „von allen weiteren Demonstrationen und Vergeltungstaten gegen das Judentum sofort abzusehen“. In Paris sei dagegen Blut geflossen, ein junger Deutscher liege auf der Totentrage. „In Deutschland aber wurde nicht einem Juden ein Haar gekrümmt“, so die gleichgeschaltete Presse. 

Auf Seite zwei folgt als Aufmacher ein großer Hinweis auf ein Waffenverbot für Juden. „Gesetzliches Verbot des Waffenbesitzes der Juden – Gefängnis und Zuchthaus neben Schutzhaft“, heißt es in der Überschrift. Der Reichsminister des Innern habe die Verordnung am Vortag erlassen.

Die kleine Kurzmeldung mit dem Titel „Dr. Goebbels vor der Auslandspresse“ weist ebenfalls auf die Ereignisse der Pogromnacht hin: „Dr. Goebbels empfing am Freitag Nachmittag etwa 150 Vertreter der Auslandspresse vieler Länder und nahm zu den Vorgängen der letzten Tage ausführlich Stellung“, heißt es dort. „Er verwehrte sich energisch gegen die maßlosen Entstellungen und Übertreibungen in einem gewissen Teil übelwollender Auslandspresse. Er richtete an die Anwesenden die Aufforderung, in loyaler Weise und wahrheitsgemäß über die Vorgänge der letzten Tage zu berichten.“ Was tatsächlich geschah, wissen wir heute.

Treuchtlinger Synagoge brannte

Die Treuchtlinger Juden flohen nach der Pogromnacht aus ihrer Heimatstadt. Seit dem Mittelalter lebten dort jüdische Bürger, um das Jahr 1860 machten sie 16 Prozent der Einwohner aus. Die Juden waren angesehene Leute, einige von ihnen waren bis in die 1930er Jahre Mitglieder des Stadtrats. Jüdische Geschäfte wie die Eisenwarenhandlung Neuburger versorgten die Umgebung, und die Beck’sche Mottenpulverfabrik war einer der größten Betriebe der Stadt.

Die mit dem Erstarken der Nationalsozialisten massiv zunehmende antijüdische Stimmung eskalierte schließlich in der Nacht vom 9. zum 10. November. Durch die Wohnung des Kantors Kurzweil, der im Nebengebäude der Treuchtlinger Synagoge wohnte und mit Faustschlägen an die Tür sowie mit Fußtritten geweckt wurde, drangen die SA-Männer in das historische Gotteshaus ein und steckten es in Brand. Die Feuerwehr wurde am Löschen gehindert, nur die umliegenden Häuser durfte sie schützen. Die Synagoge brannte komplett aus. Heute befinden sich an ihrer Stelle ein Wohnhaus mit Garten.

In den Häusern der jüdischen Bürger schlug die SA Fenster ein, schlitzte Polster auf, zertrümmerte Schränke, Tische und Stühle. Die Familien wurden verhaftet und zum Rathaus geschleppt, viele flüchteten zum Bahnhof oder in die Wälder. Dort irrten sie teils tagelang umher, bis sie zurückkehrten. Mindes­tens ein jüdischer Bürger begang Aufzeichnungen zufolge wohl Selbstmord.

In der Geschichte Deuschlands war diese Nacht viel mehr, als „ein paar zerbrochene Fensterscheiben“, wie es die gleichgeschaltete Nazi-Presse zu vermitteln suchte. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen erinnern heuer zum 80. Jahrestag daran, darunter auch drei in Treuchtlingen.

Schule, Kirche und Vereine gedenken

Von Freitag bis Sonntag, 9. bis 11. November, öffnet die Senefelder-Schule anlässlich des Jahrestags der Pogromnacht ihre Türen für eine Ausstellung über Emilie und Oskar Schindler. Das Ehepaar bewahrte zahlreiche jüdische Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs vor der Ermordung in den Vernichtungslagern und schenkte ihnen in dunkelster Stunde Hoffnung.

In Kooperation mit dem „Arbeitskreis 9. November“ und dem Förderverein will die Senefelder-Schule nun indirekt an die Vorgänge der Reichspogromnacht erinnern. Die Ausstellung „Hoffnung – Das Erbe von Emilie und Oskar Schindler“ rückt zwei Menschen in den Mittelpunkt, die Juden in einer hoffnungslosen Zeit Hoffnung gaben. Dabei thematisiert sie die Leis­tungen des Ehepaars und informiert über Stationen seines Lebens.

Der Fokus der Ausstellung liegt allerdings auf Emilie Schindler, die lange Zeit im Schatten ihres Manns Oskar stand. Obwohl sie ihm dabei half, über 1200 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung in den Vernichtungslagern zu retten, bekam sie erst am Ende ihres Lebens Anerkennung für ihre Taten. Die Fabrik der Schindlers wurde für viele, vor allem polnische Juden zu einem Ort der Hoffnung in einer Zeit, zu der in Treuchtlingen kein Platz für eine jüdische Gemeinde war.

Heute, 80 Jahre später, laden der Arbeitskreis 9. November, der Förderverein „Freunde der Senefelder-Schule“ und die Schulfamilie dazu ein, sich mit dem Erbe der Schindlers zu beschäftigen. Denn seit über fünf Jahren trägt die Senefelder-Schule das Prädikat „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ und zeigt nicht selten mit den Themen ihrer Oberstufenseminare (aktuell: „Gegen das Vergessen“ und „Christlicher Widerstand im Dritten Reich“) Engagement gegen jegliche Form von Diskriminierung.

Eröffnet wird die Ausstellung am Freitag, 9. November, um 19 Uhr. Außerdem zu besichtigen ist sie am Samstag, 10. November, von 14 bis 18 Uhr und am Sonntag, 11. November, von 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Den "Schlächter" als Vater

Auch der Verein für interkulturelle Begegnung „So fremd? So nah?“ erinnert heuer wieder an die Pogromnacht. Dazu kommt der Autor und Filmemacher Matthias Kessler am Freitag, 9. November, um 17 Uhr ins Treuchtlinger Kulturzentrum Forsthaus (Am Schlossberg 1). Er hat ein einzigartiges Interview-Experiment mit Monika Hertwig unternommen und zu einem Buch verarbeitet. Hertwig ist die Tochter von Ruth Irene Kalder, genannt „Majola“, der Geliebten des KZ-Kommandanten Amon Göth – weltweit bekannt aus „Schindlers Liste“ als „Schlächter von Płaszów“.

Schonungslos gegenüber sich selbst erzählt Hertwig in „Ich muss doch meinen Vater lieben, oder?“ ihre Geschichte. Ihre Mutter war zunächst Sekretärin von Oskar Schindler, dann die im Luxus schwelgende Geliebte Amon Göths. Die Tochter berichtet über den Kampf mit ihrer Mutter, wie sie zu Unrecht in die Psychiatrie kam, über ihre erste Ehe und ihre Zeit auf dem Strich. Dabei umkreist sie die Frage, wer wirklich Täter ist und wer Opfer.

Das Buch ist das Ergebnis der zweitägigen Begegnung des Journalisten Kessler mit Monika Hertwig. Erst 1983, mit dem Selbstmord der Mutter, brach die Scheinwelt der Tochter zusammen, die zuvor stets bemüht war, den Vater zu entschuldigen. Die Distanzierung jedoch gelingt bis heute nicht, Monika Hertwig gibt sich „die Schuld an allem und an jedem“.

Vor der Lesung im Kulturzentrum Forsthaus besteht wie schon in den vergangenen Jahren die Möglichkeit, bei Kaffee und Kuchen miteinander ins Gespräch zu kommen.

Leid und Lügen: 80 Jahre Pogrom in Treuchtlingen

© Gunnar Löw

Israel gestern und heute

Unter dem Titel „9. November – Schicksalstag für Juden und Deutsche“ findet am Samstag und Sonntag 10. und 11. November, schließlich bei der Landeskirchlichen Gemeischaft (LKG) in Treuchtlingen ein Vortragswochenende zum Thema Israel statt. Es spricht der Kasseler Journalist und Theologe Egmond Prill.

Die Veranstaltung soll vor dem Hintergrund des Gedenkens an die sogenannte „Reichskristallnacht“ Geschichte und Gegenwart des jüdischen Volks und des modernen Staats Israel vermitteln. Das Jahr 2018 steht im Zeichen der Staatsgründung Israels vor 70 Jahren und zugleich der Erinnerung an den Beginn des Massenmords am jüdischen Volk vor 80 Jahren.

Am Samstag, 10. November, um 19.30 Uhr referiert Prill in den Räumen der LKG, Josef-Lidl-Straße 1 (vormals Heinrich-Aurnhammer-Straße 16a) über „Gedanken zur Geschichte von Juden und Deutschland“. Er blickt zurück auf ein denkwürdiges Datum, das nicht nur für das Novemberpogrom von 1938 und den Beginn des Holocausts steht, sondern zum Beispiel auch für das Ende des deutschen Kaiserreichs am 9. November 1918 und den innerdeutschen Mauerfall am 9. November 1989.

Am Sonntag, 11. November, spricht der Referent dann im Gottesdienst der LKG zum Thema „70 Jahre Staat Israel – Wer hat je solches gesehen?“ Beginn ist um 11 Uhr.

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