"Reicht hinten und vorne nicht"

Bayerns Lehrer schlagen Alarm: 4000 Kräfte fehlen - jetzt droht Chaos an den Schulen

Tobi Lang

Redakteur

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12.9.2022, 13:25 Uhr
Im kommenden Schuljahr werden viele Unterrichtsstunden ausfallen, ist der Lehrerverband überzeugt. 

© Daniel Reinhardt, NN Im kommenden Schuljahr werden viele Unterrichtsstunden ausfallen, ist der Lehrerverband überzeugt. 

Simone Fleischmann wird deutlich. Ja, es fehlen 4000 Lehrkräfte. Ja, es werden Stunden gestrichen, Kinder nach Hause geschickt, Unterricht wird ausfallen. "Hinten und vorne reichen uns die Lehrkräfte nicht für die Regel-Angebote", sagt die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV). "Die Realität hinter den Zahlen muss von der Staatsregierung jetzt und im Laufe des Schuljahres immer wieder ehrlich benannt werden."

Die sprach erst kürzlich noch von einigen Hundert Stellen, die fehlen würden. Tatsächlich liegt die Zahl deutlich darüber, rechnet der BLLV vor. An den Grund-, Mittel- und Förderschule seien Tausende von Stellen unbesetzt. "Zusätzlich werden im kommenden Schuljahr rund 1500 Vollzeitkräfte – hauptsächlich schwangere Kolleginnen und Langzeitkranke – dauerhaft fehlen", heißt es.

"So starten wir jetzt ins Schuljahr", teilt der BLLV mit. "Und die Situation wird sich im Laufe des Schuljahres weiter verschlechtern." Die mobile Reserve - also Lehrkräfte, die kurzfristig einspringen können - sei schon jetzt komplett aufgebraucht. "Krankheitsausfälle wegen Corona werden noch hinzukommen und weitere Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine womöglich auch." Auch Eltern dürften den Mangel schon bald zu spüren bekommen. "Kinder, die schon um 11.20 Uhr aus der Grundschule nach Hause kommen, machen die Berufstätigkeit nur mehr eingeschränkt möglich", warnt die Gewerkschaft.

Auch an der Basis könnte die Stimmung nicht schlechter sein. Der BLLV zitiert exemplarisch einige Lehrkräfte und Verantwortliche. "Fachfremdes, teilweise ungeeignetes, sogar unfähiges Personal mit überwiegend ganz wenigen Stunden muss so verteilt werden, dass möglichst wenig Schaden entsteht", sagt etwa ein Kreisvorsitzender des Verbandes, der anonym bleiben will.

"Das Personal an unseren Schulen wird immer mehr eine Art Multi-Kulti-Truppe", sagt auch ein Schulrat aus dem Süden Bayerns. "Der Stundenplan und die Unterrichtsverteilung orientieren sich zwangsläufig daran. Die Einsatzmöglichkeiten der 'echten Lehrer‘ bewegen sich immer mehr in Richtung Kernfächer."

Verband beklagt "bildungspolitisches Streichkonzert"

Eine Personalratsvorsitzende wird deutlich: "Insgesamt könnte das Kartenhaus am ersten Schultag halten – es steht in jeder Klasse eine Person, wenn auch keine ausgebildete Lehrkraft", sagt sie. "Sobald aber weitere Schwangerschaften und Krankheitswellen kommen, ist es vorbei."

Das Kultusministerium, kritisiert die Gewerkschaft, würde an vielen Stellen Schönfärberei betreiben. Als Lehrkräfte werden dem BLLV zufolge mittlerweile auch Landschaftsarchitekten, Kinderpflegerinnen und Fitness-Trainer eingesetzt. Vorkurse und Fachunterrichte werden teilweise ganz gestrichen, Sport ebenso. "Klassengrößen über 25 Schülerinnen und Schüler sind in vielen Schulamtsbezirken inzwischen oftmals zur Normalität geworden", heißt es in einer Pressemitteilung zudem. All das sorge dafür, dass die Qualität im Klassenzimmer abnimmt.

"Maßnahmen gehen auf Kosten der Schwächsten"

"All diese Maßnahmen gehen immer zuerst auf Kosten der Schwächsten", warnt die Gewerkschaft. Denn: Häufig werden Förderangebote zuerst gestrichen. "All das, was nicht mehr auf der Partitur steht, kann nicht gespielt und über Jahre auch nicht wieder aufgeholt werden", sagt BLLV-Präsidentin Fleischmann. "Und das, obwohl wir schon so viele Defizite in unterschiedlichsten Bereichen bei den Kindern und Jugendlichen aus den beiden Corona-Jahren auffangen müssen."

Die Gewerkschaft widerspricht Kultusminister Michael Piazolo vehement. Der Freie-Wähler-Politiker versprach erst Donnerstag vergangene Woche "eine solide Unterrichtsversorgung", Bayern habe so viele Lehrkräfte wie nie zuvor. Die Realität, sagt der Verband, sieht anders aus. Es sei Zeit zu handeln, warnt Fleischmann. "Das ist ein klarer Appell an die Staatsregierung. Wir verspielen sonst im bildungspolitischen Streichkonzert die pädagogischen Errungenschaften vieler Jahre – auf Kosten unserer Zukunft."