Der "Tatort" als Seelenwärmer

6.12.2020, 12:15 Uhr
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© ARD

Im Interview erklärt Grampp, warum die Krimi-Serie auch nach einem halben Jahrhundert noch äußerst erfolgreich ist und was sie mit "Das Traumschiff" gemeinsam hat.

Wie hat sich der "Tatort" über 50 Jahre hinweg verändert?

Über die Jahre hat sich der Tatort deutlich verändert. Häufiger ging es schlichtweg darum ‚Wer hat es getan?‘. Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich der Tatort jedoch schon in die Richtung, wie wir die Sendung heute kennen: Es geht um soziale Milieus und auch um die Frage ‚warum hat jemand die Tat begangen?‘. Wir lernen oft den Täter als ‚armes Würstchen‘ kennen, die Motive sind meistens nicht Rachsucht oder Böswilligkeit, sondern soziale Probleme, Geldnot und Arbeitslosigkeit. Ab den 1980er Jahren stehen dann die Kommissare mehr und mehr im Vordergrund, deren – auch persönliche – Wege wir verfolgen sowie ihre Art und Weise, den Fall aufzuklären. Einher geht damit auch ein mehrere Episoden übergreifender Erzählungsstrang. Das scheint mir eine ganz gängige Entwicklung: Eine Serie beginnt mit episodischem Erzählen und nach und nach treten nicht nur wiederkehrende Personen in Erscheinung, sondern diese entwickeln sich allmählich. Zumeist im kontrastierenden Beziehungsabgleich mit anderen Figuren des Teams.

So haben wir immer einen abgeschlossenen Fall und gleichzeitig ein Fortsetzungselement über längere Zeit hinweg. Das nennt man wissenschaftlich ‚hyperkonnektive Zuschauerbindung‘, was schlicht bedeutet: Unterschiedliches Klientel soll angesprochen werden.

Persönlichkeiten und lokale Besonderheiten

Machen wir noch einmal einen Sprung in die 1990er oder zu den aktuellen Folgen. Heute ist der Tatort sehr ausdifferenziert, die Persönlichkeiten der Ermittler und lokale Besonderheiten sind sehr viel stärker zu finden. Das beginnt bei den Dialekten und geht bis hin zur Tonalität, die typisch für einige Standorte sind, so sind zum Beispiel die Weimarer Ermittler eher komödiantisch, andere Kommissare sind buchstäblich bierernst. Der Tatort in Wiesbaden ist wiederum dafür bekannt, dass er sehr selbstreflexiv ist, da trifft zum Beispiel der Kommissar sich selbst als Schauspieler. Solche Experimente sind inzwischen sehr gängig, war mir durchaus gefällt. Soweit ich aufgrund der Twitter-Beiträge und Feuilletonbeiträge beurteilen kann, die ich mir angeschaut habe, sieht das indes nicht jeder so. Diese Stilvariation ist sehr stark zu sehen und genau die macht den Tatort so interessant.

Spielt der Sendeplatz am Sonntag um 20.15 Uhr in einer Zeit der Streamingdienste noch eine Rolle?

Ich glaube, der feste Sendeplatz spielt schon eine Rolle. Als ich noch Student war, haben wir uns Sonntagabend in der Kneipe getroffen, um Tatort zu schauen. Vor allem, um uns über die falsch gewählten Dialekte oder örtliche Unmöglichkeiten bei Verfolgungsjagden durch Konstanz lustig zu machen.

Vielleicht suchen "wir" Dinge, die Bestand haben oder doch noch einmal zumindest die Ahnung eines "medialen Lagerfeuers"? Als TV-Urgesteine sind der "Tatort" und vielleicht noch das "Traumschiff" übrig. "Das Traumschiff" hat aber vergleichbar gute Einschaltquoten. Es kommt immer an Weihnachten und Silvester und erzählt auch immer die gleichen Geschichten, aber ist trotzdem erfolgreich.

Daheimgebliebenes "Traumschiff"

Also vielleicht schalten die Menschen da ein, weil es eben zu den kalten Feiertagen gehört, imaginär in die Südsee zu schippern. Wie bei "Tatort" am Sonntag kann man sich darüber mit Eltern und Freunden unterhalten, das bildet Gesellschaft ab und gehört zum Alltag. Durch die Anthologiestruktur, die vergleichsweise hohe Frequenz der Variationen, wäre der Tatort hier das "intelligentere", daheimgebliebene Traumschiff.

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