"Sind wir immer nur an billig interessiert?"

23.7.2013, 08:22 Uhr

© Roggenthin

Herr Walwei, die deutsche Arbeitsmarktstatistik sieht vergleichsweise gut aus – welche Aussagen können Sie zur Qualität der Beschäftigungsverhältnisse treffen?

Ulrich Walwei: Wir haben tatsächlich eine starke Verbesserung am Arbeitsmarkt gesehen. Das geht aber auch einher mit Veränderungen bei den Beschäftigungsverhältnissen: Sogenannte atypische Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, befristete Verträge und Leiharbeit haben zugenommen. Wir sehen außerdem, dass Beschäftigung im Niedriglohnbereich zugelegt hat. Diese Veränderungen haben jedoch nicht erst nach den Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder eingesetzt.

Wann haben diese Trends eingesetzt, wenn nicht mit den Arbeitsmarktreformen seit 2003?

Walwei: Die Beschäftigungsformen verändern sich schon seit etwa Mitte der achtziger Jahre – seitdem haben die atypischen Formen zugenommen. Steigende Lohnungleichheit beobachten wir seit Mitte der neunziger Jahre.

Welche Auswirkungen können die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen auf Dauer auf eine Gesellschaft haben – also zunehmend schlecht bezahlte oder befristete Jobs sowie eine fortschreitende Lohnungleichheit?

Walwei: Für die Gesellschaft bedeutet das natürlich, dass die Konsummöglichkeiten und die Möglichkeiten, längerfristige Investitionen zu tätigen, bei einem Teil der Bevölkerung eingeschränkt sind. Man muss aber natürlich auch fragen: Was wäre die Alternative dazu? Wir hatten bis 2005 eine sehr hohe Arbeitslosenquote. Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sind natürlich viel schlechter dran als Beschäftigte.

Wichtig ist für die Gesellschaft immer, ob Personen in diesem Segment atypischer Beschäftigung oder auch im Niedriglohnbereich verharren. Eine ganz zentrale Frage lautet: Inwieweit können diese Beschäftigungsformen ein Sprungbrett sein? Wir sehen hier noch zu wenig Aufwärtsmobilität.

Von der Arbeitslosigkeit in eine befristete Beschäftigung – das klingt nach Aufstieg. Eine andere Frage ist, ob Menschen aus normalen Beschäftigungsverhältnissen in atypische Beschäftigungsverhältnisse abgerutscht sind?

Walwei: Wir haben darüber vergleichsweise wenige Informationen. Der Punkt ist meiner Ansicht nach eher, dass Personen, die vorher arbeitslos waren oder Personen, die weder arbeitslos noch beschäftigt waren, zum Teil in atypische Beschäftigung gehen. Ich denke hier an Schüler und Studenten, aber auch an Rentner, die noch einmal aktiv werden. Gerade bei den Minijobs haben wir außerdem eine große Gruppe von Frauen, wo wir nicht allein das Problem haben, dass für sie keine andere Beschäftigung zur Verfügung stünde, sondern wir haben hier auch das große Thema der Betreuung: zum Teil der Kinder, aber auch pflegebedürftiger Älterer.

Oft erschweren es hier die Rahmenbedingungen, dass die Menschen sich etwas anderes suchen. Das ist also nicht allein eine Sache der Beschäftigungsverhältnisse sondern auch der Frage, welche Rahmenbedingungen für die Beschäftigung gegeben sind.

Zuweilen wird die Sorge geäußert, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse die Mittelschicht in Gefahr bringen könnten. Bei den von Ihnen genannten Argumenten und Gruppen klingt es nicht danach.

Walwei: Eine ganz entscheidende Frage, was die Mittelschicht angeht, ist für mich: Inwieweit gelingt es, dass diese Beschäftigungsformen für die Menschen nur eine Episode sind. Es ist ein entscheidender Punkt, dass es uns am Ende gelingt, dass sich problematische Erwerbsepisoden nicht verfestigen. Wichtig ist letztendlich, wie sich die Biographie und die Karriere von Menschen entwickelt. Man muss die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes nutzen, um Menschen voranzubringen. Wenn uns das nicht gelingen sollte, dann sehe ich tatsächlich Gefahren.

Es spielt auch eine Rolle, wie eine bestimmte Leistung am Markt bewertet wird. Wir wissen, dass es im gesamten Gesundheits- und Pflegesektor schwer ist, Pflegepersonal zu bekommen, weil die Vergütungsstrukturen alles andere als gut aussehen. Da muss sich die Gesellschaft fragen, wie viel sie bereit ist, für solche Dienstleistungen auszugeben. Also: Sind wir immer nur an billig interessiert oder geben wir mit der Bereitschaft mehr zu zahlen auch eine gewisse Wertschätzung zum Ausdruck?

Würden Sie einen gesetzlichen Mindestlohn befürworten?

Walwei: Bei einem gesetzlichen Mindestlohn muss man aufpassen, wie bei allen Regelungen, die auf mehr Qualität der Beschäftigung zielen. Kritisch wäre ein gesetzlicher Mindestlohn dann, wenn er die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes beschränken würde gerade für die Gruppen, für die es schwer ist, überhaupt dort hineinzukommen.

Ich halte aber einen gesetzlichen Mindestlohn durchaus für sinnvoll, um extreme Verwerfungen in der Lohnverteilung auszuschließen. Wir haben ja teilweise Stundenlöhne, die im Bereich von fünf oder sechs Euro liegen - das halte ich auch aus Gründen des Zusammenhalts der Gesellschaft, aus Fairnessgesichtspunkten, auch aus Motivationsgründen und vor dem Hintergrund, dass ich meine, dass jemand, der Vollzeit tätig ist, zumindest als Single in der Lage sein sollte, seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, für bedenklich.

Sie sagen, der Mindestlohn sollte so moderat gestaltet sein, dass er nicht die Aufnahme in den Arbeitsmarkt verhindert. Naiv gefragt: Wer sollte die anstehende Arbeit erledigen, wenn nicht neu eingestellte Arbeitskräfte?

Walwei: Die Frage ist, ob die Arbeit dann überhaupt nachgefragt würde - es könnte sein, dass sie einfach nicht erledigt wird. Die zweite Möglichkeit wären Rationalisierungsmaßnahmen, die diese Arbeiten erübrigen, dass also organisatorisch-technische Maßnahmen getroffen werden, um die Arbeit wegfallen zu lassen. Eine dritte Möglichkeit ist, dass diese Arbeit in die Schattenwirtschaft abdriftet oder als Eigenleistung erbracht wird – also die Personen erledigen selbst die Arbeit, die sie andernfalls vielleicht einkaufen würden. Es gibt viele Möglichkeiten, wie der Markt auf so etwas reagieren kann.

Herr Walwei, Sie sind Volkswirtschaftler. Kann es sich auf Dauer für eine soziale Marktwirtschaft rechnen, wenn Unternehmen zunehmend auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse setzen?

Walwei: Es ist kritisch, wenn Personen aus dem wiederkehrenden Wechsel zwischen Arbeitslosigkeit und geringfügiger oder kurzfristiger Beschäftigung nicht herauskommen. So etwas sollte auch nicht Grundlage eines Geschäftsmodells werden. Das kann nicht nachhaltig sein.

Deswegen geht es darum, bei der Qualität der Arbeit vielmehr die Nachhaltigkeit von Biographien in den Blick zu rücken und nicht nur das Kurzfristige. Menschen in atypischer Beschäftigung oder auch in Niedriglohnjobs haben gezeigt, dass sie am Arbeitsmarkt gefragt sind. Sie weiterzuentwickeln scheint mir ein ganz wichtiger Punkt zu sein. Und ein weiterer, für die Gesellschaft ganz entscheidender Punkt ist, Bildungs- und Ausbildungsarmut zu vermeiden. So lange wir es uns leisten, Menschen ohne Schulabschlüsse und ohne Ausbildung auf den Arbeitsmarkt zu lassen, können wir an der Situation sowieso nicht viel ändern.

Sie haben den Zusammenhalt der Gesellschaft angesprochen. Welche Signalwirkung hat es auf eine Gesellschaft, wenn sie einerseits immer mehr kämpfen muss, die politische und wirtschaftliche Elite sich andererseits aber Dinge herausnimmt, die ein normaler Bürger sich niemals erlauben dürfte?

Walwei: Da muss jeder vor seiner eigenen Tür kehren. Es gehören viel Glaubwürdigkeit und viel Vertrauen dazu, wenn man im politischen Bereich Arbeitsmarktreformen durchsetzt, die im wahrsten Sinne des Wortes Schmerzen verursachen und die Einschränkungen bedeuten. Da geht es natürlich nicht, dass Andere sich das Beste von allem herausnehmen.

Zu einer Gesellschaft gehört auch eine glaubwürdige Steuerpolitik. Ich halte es für selbstverständlich, dass diejenigen mit den breiten Schultern auch mehr zum Gemeinwohl beitragen. Das ist auch ein wichtiger Punkt, der der Lohnungleichheit ein Stück weit entgegenwirken kann: wenn man sagt, man möchte die Personen mit geringem Erwerbseinkommen zumindest vom Nettoeinkommen her in eine etwas bessere Position bringen.

Nehmen wir an, dass prekäre Biographien zunehmen und dass die Situation sich tendenziell so weiter entwickelt, wie sie sich momentan darstellt. Wie schätzen Sie die deutsche Gesellschaft ein – wird sie das stillschweigend hinnehmen oder wird sie den Aufstand wagen?

Walwei: Gerade in Ostdeutschland sehen wir viele schwierige Biographien. Eine Zunahme der Altersarmut werden wir vor allem in Ostdeutschland beobachten, im Westen zwar auch, da aber weniger als im Osten. Ich sehe für die Zukunft jedoch keineswegs nur negative Tendenzen. Durch den Geburtenrückgang wird es für die Betriebe zukünftig schwieriger werden, qualifizierte Mitarbeiter zu bekommen. Das verändert die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Wer gut qualifiziert ist, wird dann stärker umworben werden.

Das heißt aber auch: Gerade bei den Jüngeren wird es immer wichtiger werden, sie gut auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Es gibt einen Punkt, den wir sehr ernst nehmen müssen: Die Qualifikationsanforderungen seitens der Betriebe steigen kontinuierlich. Deswegen sind Bildungs- und Ausbildungsarmut ein riesiges Problem, das am Ende die prekären Erwerbsbiographien erzeugt. Noch einmal: Wir müssen weiterkommen. Wir haben zwar eine verbesserte Arbeitsmarktlage, aber die Arbeitslosigkeit ist immer noch hoch. Wir müssen ein lebenslanges Lernen auch bei denjenigen organisieren, die eben nicht so gute Voraussetzungen mitbringen.

Dr. Ulrich Walwei ist Volkswirt und Vizedirektor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

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