Nach einem realen Fall

Lars Eidinger brilliert in drastischem Stasi-Drama

12.8.2021, 11:13 Uhr
Lars Eidinger als Franz Walter in einer Szene des Films "Nahschuss".

© Alamodefilm/dpa Lars Eidinger als Franz Walter in einer Szene des Films "Nahschuss".

Zweimal sieht man Lars Eidinger, der hier den ambitionierten Wissenschaftler Franz Walter spielt, nackt. Das ist in diesem Film kein unwesentliches Detail. Einmal steht Franz nach dem Sex rauchend am Fenster, in der zweiten Einstellung muss er sich im Berliner Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen einer Leibesvisitation unterziehen. Die beiden Szenen stehen wie paradigmatische Pole für das Schicksal eines ganz normalen, harmlosen Mannes, der ohne großes Zutun in die Fänge des Unrechtsapparates DDR geriet.

Hanebüchene Argumente

Regisseurin und Drehbuchautorin Franziska Stünkel ließ sich für ihr spannendes Politdrama vom realen Leben des Wirtschaftswissenschaftlers Werner Teske inspirieren. Der Fall ist bekannt, insofern wird hier nicht gespoilert: Teske war der letzte Angeklagte in der DDR, der 1981 zum Tode verurteilt und durch einen sogenannten Nahschuss in den Hinterkopf hingerichtet wurde.

Stünkels Film erzählt, was vor dem durch hanebüchene Argumente und Rechtsbeugung erwirkten Todesurteil geschah, mit dem ein Exempel statuiert werden sollte: Geheimdienstkonform wird Franz Walter direkt aus dem Flugzeug herausgeholt, das ihn nach Afrika zu einem Forschungsprojekt fliegen sollte. Man teilt ihm mit, dass er der Nachfolger seiner Professorin werden soll. Franz ist überglücklich, doch das Angebot hat einen Pferdefuß. Bedingung ist, dass er sich verpflichtet, für die HVA (Hauptverwaltung Abwehr), den Stasi-Auslandsgeheimdienst, zu arbeiten. Franz willigt ein, wohl weil er die Tragweite nicht erkennt, weil er den Job unbedingt will. Vielleicht, weil er sowieso keine Wahl hat.

Devid Striesow als Stasi-Mann

Neben dem jovialen und perfiden Kollegen Dirk Hartmann (Devid Striesow) ist der Zuschauer zunächst der einzige Mitwisser. So ist man unmittelbar dran am Geschehen. Auch daraus zieht der Film in der Folge sein Potenzial und seine Sogwirkung.

Franz wird auf zwei in den Westen geflohene Profi-Fußballer angesetzt, die er ganz im Sinne des Systems mürbe machen soll. Fortan ist er ein Rädchen im Getriebe der Maschinerie, die mit Menschenverachtung und Lügen arbeitet und im Wortsinn über Leichen geht. Und die Franz' Leben bis ins Detail kennt und bestimmt. Ein Entkommen gibt es nicht. Er ist Täter und wird zugleich zum Opfer.

Bei seiner Hochzeit mit Corina (stark: Luise Heyer) sind nur Stasi-Leute zu Gast, allein sein regimekritischer Vater wird misstrauisch. Doch je mehr der junge Wissenschaftler mit seiner Spitzel-Rolle und seiner Schuld hadert und Fluchtgedanken hegt, desto mehr erhöht die Stasi den Druck auf ihn. Bis auch sein Privatleben vor die Hunde geht.

Mensch gegen Macht

Insofern leistet Regisseurin Stünkel 60 Jahre nach dem Beginn des Mauerbaus nicht nur Aufklärungsarbeit über die totalitären Methoden des Arbeiter- und Bauernstaats, der seine Netze bis in die BRD spinnen konnte. Viel mehr spielt sie die Karte Mensch gegen Machtapparat. Und hat in dunklen Farben einen visuell stilsicheren, bestens funktionierenden, weil aufwühlenden Spielfilm geschaffen. Lars Eidinger macht darin die psychische und physische Demontage seiner Figur über alle Gefühlsfacetten nuanciert nachvollziehbar. So setzt "Nahschuss" der Melodramatik des bekannten Stasi-Dramas "Das Leben der Anderen" eine Realität entgegen, die erschüttert und weh tut.

Gekonnt ist die lineare Erzählung mit Szenen aus Franz' letztem Gerichtsverfahren gegengeschnitten, wo man auf Eidingers leinwandfüllendem Gesicht alle Verzweiflung ablesen kann. Ein glückliches Ende verbietet sich angesichts des realen Falls. "Nahschuss" ist ein überaus beklemmender Film, aber absolut sehenswert.

In diesen Kinos läuft der Film.

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