Kulturhauptstadt-Verfahren: Intransparentes Millionenspiel

2.12.2020, 14:27 Uhr
Kulturhauptstadt-Verfahren: Intransparentes Millionenspiel

© Foto: Jan Woitas/dpa

Es geht um Millionen an Steuergeldern, um Prestige und die glanzvolle Zukunft von Regionen: Die Adelung zur Kulturhauptstadt Europas ist wie ein Sechser im Lotto. Ein Spiel mit hohem Einsatz, dessen Regeln niemand wirklich nachvollziehen kann. Und die deswegen dringend auf den Prüfstand gehören, fordert Gottfried Wagner.


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Der Österreicher (nicht verwandt mit dem Nürnberger Bewerbungsleiter Hans-Joachim Wagner) war selbst mehrfach Mitglied der Jury, die den Titel "Kulturhauptstadt Europas" vergibt. Nun fordert er gemeinsam mit einer Gruppe von ehemaligen Kollegen eine komplette Reform des Systems, das nicht erst seit diesem Jahr in der Kritik steht.

Neue Formate?

Hauptforderung: "Es braucht eine inhaltliche Erneuerung, mehr Transparenz, mehr Qualitätskontrolle. Und vielleicht ganz neue Formate", so Wagner. Er fühlt sich darin gerade nach der jüngsten Entscheidung des aktuellen Gremiums für Chemnitz bestätigt: "Das Votum ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich glaube, dass es schon vor der Entscheidung in der Jury eine Sympathie für den Underdog aus Ostdeutschland gab." Wissen kann er es nicht, denn der Prozess der Kür ist so undurchsichtig wie die Bestellung der Entscheidungsgremien.

Doch es gibt auffällige Konstanten: Seit Jahren wird der Titel nur noch an vergleichsweise kleine Städte vergeben. Unsichtbare Obergrenze scheint eine Einwohnerzahl von um die 300 000 zu sein. Städte, die den Titel nötig, aber vergleichsweise wenig an kultureller Infrastruktur zu bieten haben. Wie ist es zu erklären, dass Großstädte mit einer großen Kulturlandschaft und einem großen Reservoir an Experten nicht zum Zuge kommen? Was also sind die Gründe dieser "Verzwergung", wie es einige in der Branche nennen?

"Länder stoßen an ihre Grenzen"

Zumindest für einige EU-Staaten – der Titel wandert turnusgemäß von Land zu Land – gibt es eine einfache Erklärung: "Kleine Länder wie Malta, Luxemburg oder auch Österreich stoßen da schnell an ihre Grenzen", sagt Wagner. Will heißen: Großstädte sind dort Mangelware. Daher müssen sie auf Kleinstädte wie Bad Ischl – das rund 14 000 Einwohner starke Städtchen kann sich 2024 mit dem Titel schmücken – zurückgreifen.

"Bad Ischl ist schön, aber keine Kulturhauptstadt, die das Potenzial Europas verkörpert", sagt Wagner und rät dringend zu einer Debatte und Reflexion über die Ziele und das Programm dieses wichtigsten europäischen Kulturprojekts: "Man darf diese Marke nicht verkommen lassen", fordert er.


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Grundlage der Jury-Entscheidung sind laut Statuten sechs Kriterien: der Beitrag der Bewerbung zu einem langfristigen Kulturentwicklungsplan der Stadt; die "Europäische Dimension" des Programms; die kulturellen und künstlerischen Inhalte; die Fähigkeit, ein ganzjähriges Kulturfestival auch tatsächlich umzusetzen; die Einbindung der Stadtgesellschaft; geeignete Verwaltungsstrukturen. "Die Entscheidungen der vergangenen Jahre ließen sich nicht immer in Deckung bringen mit diesem Kriterienkatalog", meint Wagner. Soziale Aspekte seien da oft vor kulturelle gegangen.

"Fehlentwicklungen korrigieren"

Spätestens bis Ende 2024, so haben Europäisches Parlament und Europäischer Rat in ihrem Beschluss vom Juni 2014 festgelegt, muss es zu dem festgelegten Auswahl-Verfahren einen Zwischenbericht geben. "Bis dorthin muss man das Programm dringend evaluieren. Denn so kann es nicht weitergehen. Fehlentwicklungen müssen korrigiert werden", sagt Wagner.

Seit 1985, als Athen den Auftakt machte, trugen mehr als 50 Städte den Titel. Das Prinzip, jedes Jahr zwei andere Länder mit zwei Städten zu nominieren, passe aber nicht mehr in die Zeit, meint Wagner. Sinnvoller wäre es in seinen Augen zum Beispiel, europäisch relevante Themen auszuschreiben, die Kommunen und Regionen dann vielleicht auch länderübergreifend mit den Mitteln der Kultur bearbeiten.

Viel Spielraum

Es mag gute Gründe für die Wahl von Bad Ischl gegeben haben. So wie es gute Gründe für Chemnitz in diesem Jahr gegeben haben mag. Allein, das vorentscheidende System der Nominierung der Jurymitglieder und auch der Entscheidungsweg sind wenig nachvollziehbar und schon gar nicht zu überprüfen. Auf elf Seiten werden in dem EU-Beschluss die Regeln des Wettbewerbs festgelegt. Zu den Kandidaten für einen Jurysitz heißt es: Sie sollen "über weitreichende Erfahrung und Sachkompetenz im Kulturbereich (verfügen), auf dem Gebiet der kulturellen Stadtentwicklung oder der Organisation einer Veranstaltung, Kulturhauptstadt Europas’ oder einer internationalen Kulturveranstaltung vergleichbaren Umfangs und Ausmaßes".


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Das lässt viel Spielraum. Und der wird weidlich genutzt. 150 Experten, ausgewählt von der Europäischen Kommission, also letztlich den nationalen Vertretern in der Kommission, bilden einen Pool. "Aus diesem Pool wählen das Europäische Parlament, der Rat der EU und die EU-Kommission je drei Personen aus. Außerdem ernennt der Ausschuss der europäischen Regionen einen Juror/in", heißt es bei der Kulturstiftung der Länder, die in Deutschland das Auswahlverfahren des Wettbewerbs organisiert. Zudem dürfen die beiden Länder, die beim Titel an der Reihe sind, jeweils zwei Juroren auswählen – "nach eigenem Verfahren". Und eigenen Kriterien.

"Transparenzpolitik ist eine Wunde"

Noch intransparenter wird es beim Verfahren selbst. Die Beratungen finden unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit statt. Die Verschwiegenheit geht sogar so weit, dass die Bewerberstädte ein regelrechtes Schweigegelübde dazu ablegen müssen, wie die Präsentation vor der Jury ablief. Sie dürfen nicht einmal darüber reden, was sie selbst präsentiert haben. "Die Transparenzpolitik ist eine offene Wunde", sagt Wagner und betont: "Die EU-Kommission muss in dem ganzen Prozess mehr Verantwortung übernehmen."

Schließlich geht es um Millionen an Steuergeldern. Allein in den vergangenen fünf Jahren floss in die Kulturhauptstädte ein hoher dreistelliger Millionenbetrag aus öffentlichen Kassen – kommunal, regional, national und europäisch. Für Nürnberg beispielsweise betrug der geplante Etat im Falle eines Zuschlags rund 100 Millionen Euro, Chemnitz rechnet in seinem Bewerbungsbuch mit einem operativen Budget von gut 60 Millionen.

Berater für den Titel

Wo es so viel Geld zu verteilen gibt, lassen Berater sich nicht lange bitten. Ihre Chancen auf einen lukrativen Job steigen, je kleiner die kulturelle und organisatorische Substanz einer Stadt ist.

Augenfällig ist, dass mit dem Wanderzirkus Kulturhauptstadt auch immer die gleichen Berater von Stadt zu Stadt ziehen. Dass sich dadurch über die Jahre Jurymitglieder und Berater öfter über den Weg laufen, dass sich vielleicht sogar der ein oder andere regelmäßige "Expertenaustausch" ergibt, ist aber weder nachweisbar noch illegal.

Erfolgreiche Unterstützung

Während der gesamte Prozess für Außenstehende kaum nachvollziehbar ist, scheinen aber einige genau zu wissen, wie er funktioniert. So ist Mattijs Maussen, "Kulturhauptstadt-Berater" aus den Niederlanden, quasi ein Garant für den Titel. Eine Stadt, die sich ihn leistet, hat fast schon gewonnen. Schließlich wirbt er selbst damit, dass 11 von 15 von ihm unterstütze Bewerbungen erfolgreich waren. Zuletzt hat er Chemnitz beraten – Ergebnis bekannt.

Auch in Nürnberg hatte er sich wie sicherlich auch in anderen Städten angedient: "Jiri Suchanek, Leiter des Kulturhauptstadt-Programms Pilsen 2015, kam 2016 zusammen mit Kulturhauptstadtberater Mattijs Maussen nach Nürnberg, um Gespräche mit dem Kulturreferat zu führen", steht im Jahresbericht des Nürnberger Amtes für internationale Beziehungen. Vielleicht hätte ihn die Stadt engagieren sollen, schließlich saß sein Begleiter Suchanek in diesem Jahr in der Jury, die die Bewerbung Nürnbergs abschmetterte.

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