Das sind Nürnbergs vier Konkurrenten im Rennen um die Kulturhauptstadt

14.10.2020, 13:19 Uhr

Magdeburg

Positiv denken. Das hat sich Magdeburg nun verordnet. Schlug das erste Bewerbungsbuch noch unter dem Motto "Raus aus der Leere" ("Out of the Void") einen klagend-pessimistischen Ton an, setzt das neue auf die weitaus optimistischere "Anziehungskraft" ("Force of Attraction"). Fragt sich, wie viel davon Marketing, wie viel echter und gerechtfertigter Sinneswandel ist.

Man will sich als Stadt der Musik, der Innovation und des Magdeburger Rechts empfehlen. Und natürlich als Stadt aus dem Osten. "Feeling East" heißt denn auch zum Beispiel eine große Ausstellung, die die erste sein will, die vermittelt, wie sich der Wandel vom einen System zum anderen nach der Wende anfühlte – inklusive einer "augmented reality app", die ganz gefühlsecht ins Alltagsleben der DDR führt. Dazu gehört auch der Fußballclub Magdeburg, einziger DDR-Verein, der einen europäischen Wettbewerb gewann. 1974 schlug man die AC Milan im Finale des Europapokals der Pokalsieger. Im Kulturhauptstadtjahr sollen Fotos aus den Privatalben der Magdeburger ausgestellt werden, die an diesen großen sportlichen Erfolg erinnern. Dazu wird ein "Fußball-Drama" geschrieben und mit Fußballfans aufgeführt.


Kulturhauptstadt 2025: Nürnberg stellt finale Bewerbung vor


Musik ist ebenfalls ein wichtiges Thema der Bewerbung und scheint an vielen Stellen auf – in Performances, Konzerten, Workshops, Chorgründungen und der Frage, wie man die Musik Telemanns auch Gehörlosen nahebringen kann.

Stärken: Die Stadt im Osten mit all ihren Problemen von Gebäude-Leerstand bis mangelndem Selbstbewusstsein ihrer Bewohner braucht dringend einen positiven Schub und hat sich vom ersten zum zweiten Bewerbungsbuch deutlich entwickelt. Das ist Anerkennung wert.

Schwächen: Die Bewerbung ist so gar nicht prägnant. Workshops, Ausstellungen, Leute zusammenbringen, das übliche, aber ohne starke eigene Handschrift und pointierte Themensetzung.


Chemnitz

Um sein neues Bewerbungsbuch nach Berlin zu schaffen, hatte Chemnitz 39 Freizeitsportler auf Fahrrädern losgeschickt. In 48 Stunden fuhren sie das wertvolle Gepäck in die Hauptstadt — auf ziemlichen Umwege, um so ein großes "C" auf der Landkarte zu beschreiben. Das passt zum neuen Bewerbungs-Motto, das sich die Stadt verordnet hat: "C the Unseen" (Sieh das Unsichtbare/die Unsichtbaren).

Erklärtes Ziel ist es, die Menschen zurückzuholen, die sich von politischer und kultureller Teilhabe zurückgezogen haben. Zum Beispiel, indem sie das Angebot zu 25-minütigen Vier-Augen-Gesprächen mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur oder Sozialem bekommen.

Als früheres Karl-Marx-Stadt lenkt Chemnitz seinen Blick in der Bewerbung konsequent auf den Osten Deutschlands und Europas: Welche Produkte der DDR werden heute am meisten vermisst? Wie sähe das Internet aus, wenn es auf Ost-Ideen basieren würde? Was ist eigentlich Staatskunst? Es soll Ausstellungen zu Architektur und Kunst aus Osteuropa seit den 1950er Jahren geben, vergessene Ost-Objekte (in privaten Dachböden oder Garagen) ausgegraben werden, ein Oldie-Treffen von Ladas, Trabants und Wartburgs mit Kunst und Musik veranstaltet werden, das berühmteste Amateur-Radrennen der DDR von Pilsen aus startend zurückkommen und das Festival "Thinking Marx globally" radikale neue Ideen für unser Wirtschaftsleben entwickeln.


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Sehr viel offensiver als im ersten Bewerbungsbuch geht man mit dem Rechtsextremismus vor der eigenen Haustüre um — vom NSU, der in Chemnitz Unterschlupf fand, bis zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen, die 2018 international Schlagzeilen machten. Ausstellungen und Diskussionsformate befassen sich mit Terror und Rechtsextremismus, eine "europäische Werkstatt für Kultur und Demokratie" soll eingerichtet werden und ein neuer Sportclub soll Flüchtlinge und Magdeburger über Fußball- und Basketball zusammenbringen.

Stärken: Stringente Ost-Bewerbung mit vielen herzerwärmenden Ideen für eine Stadt, die im allgemeinen Bewusstsein für Rechtsextremismus, Arbeitslosigkeit, Plattenbau steht.

Schwächen: Genau dieses Image. Taugt solch ein "Problemort" tatsächlich als deutsche Kulturhauptstadt?


Hannover

Die gute Nachricht: Sollte Hannover gewinnen, profitiert auch Nürnberg. Und ebenso jeder der anderen Unterlegenen. Denn 15 Millionen Euro aus dem Kulturhauptstadtbudget sollen im Falle eines Sieges an die Mitbewerber fließen. Dahinter steckt ein Gedanke der Solidarität, und der wiederum wird in dem ganz und gar außergewöhnlichen Bewerbungsbuch pfiffig dargelegt.

Wie schon das erste Bewerbungsschreiben, das in Romanform geschrieben war, ist auch das zweite ein Kunstwerk — inhaltlich wie optisch. Die fiktive Geschichte darin geht so: Im Jahr 2058 stößt eine Wissenschaftlerin auf das Kulturhauptstadtbewerbungsbuch, das Hannover im Jahr zwar 2020 geschrieben, aber nicht veröffentlicht hat. Stattdessen hatte man damals, so die fiktive Geschichte, ein Manifest bei der Jury eingereicht, das zu Solidarität der potenziellen Kulturhauptstädte statt Wettbewerb aufruft und wurde disqualifiziert. Das verschollene Bewerbungsbuch wird von der Forscherin nun mit Anmerkungen und Kommentaren herausgegeben.


+++ Endspurt um den Titel: Wer wird Kulturhauptstadt Europas 2025? +++


Mit dieser wilden, von dem jungen Autor Juan S. Guse geschriebenen Geschichte bleibt sich die 530.000-Einwohner-Stadt auf ihrem radikal künstlerischen Weg der Bewerbung treu. Gedruckt sind die 100 DIN-A4- Seiten auf einer 21 Meter langen, gewebten Stoffbahn. "Normalität ist keine Option", lautet denn auch der Leitspruch.

Auch seinem zentralen Thema, der Agora, bleibt Hannover treu. Bestehend aus zwölf immer wieder neu zusammensetzbaren Segmenten soll sie als eine Art mobiler Markt- und Diskussionsplatz über den Cityring durch die Stadt wandern, jeder Umzug von künstlerischen Paraden mit großem Tamtam begleitet. Hauptthemen, die dort verhandelt werden sollen, sind Demokratie, Digitalisierung, Menschenrechte und der Planet Erde.

Ein für die Stadt weiteres spektakuläres Projekt, das den Verkehrsstrom unterbricht, ist die teilweise Sperrung der Raschplatzhochstraße im Jahr 2025 für den Autoverkehr. Vorrang sollen auf den Straßen im Kulturhauptstadtjahr die Hannoveraner bekommen. Die berühmte Pferderasse wird zudem Thema von Tagungen und Theaterstücken. Neben Tieren spielt Wasser eine wichtige Rolle — mit schwimmenden Kulturplattformen aus Industrieabfällen, schwimmenden Werkstätten, Laboren und Plantagen. Außerdem soll ein mobiler kleiner Konzertsaal entstehen: Die Mini-Elphi für Hannover.

Stärken: Chapeau vor dem Mut, konsequent die Kunst sprechen zu lassen! Das ist ein echtes Alleinstellungsmerkmal und einer Kulturhauptstadt würdig.

Schwächen: Tolle Verpackung ist das eine, die Inhalte und bleibenden Dinge sind das andere. Wer nur auf verrückte Ideen und Programm setzt, droht nachhaltige Effekte zu verspielen.


Hildesheim

Grün, grüner, Hildesheim: Die Stadt hat die Klimakrise ganz nach oben auf ihre Agenda als Kulturhauptstadt gesetzt. Das Motto von Hildesheim mit seinen rund 260.000 Einwohnern lautet: "Wir kümmern uns — um einander, um uns selbst, um unseren Planeten, um unsere Vergangenheit und Zukunft". Der "New green deal" ist großes Thema, man will Zeichen setzen gegen den Druck der permanenten Selbstoptimierung und immer mehr Konsum. Statt dessen geht es um "La Bella Vita" in der Provinz, um das "Pro no", also das Neinsagen zu immer mehr Konsum, um Kunst und ein gutes Leben. Man möchte von den Pflanzen lernen und Geschichten über globale Wirtschaft, Kolonialismus, Migration, Politik und Ernährung in der EU anhand der heimischen Zuckerrübe erzählen und erforschen. Konkret hat sich Hildesheim zum Ziel gesetzt, das Kulturhauptstadtjahr CO2-neutral durchzuziehen. Das heißt in der Konsequenz: Viele Veranstaltungen werden digital stattfinden.

Wie schon im ersten Bewerbungsbuch steht Hildesheim zu seinem Image als Provinz — und feiert sie. Etwa mit einem Filmwettbewerb, der das ländliche Leben zum Inhalt hat. Oder mit dem Angebot an alle 164 Orte in den 17 Bezirksgemeinden, Hauptstadt für einen Tag zu werden. Ein Troubadour wird sich das ganze Jahr über auf den Weg durch die Region machen und für jede Gemeinde ein eigenes Lied kreieren. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie wird ein "Network of boring Cities", also ein Netzwerk der langweiligen Städte, gegründet.

Mit dem Altern, dem Umgang mit pflegebedürftigen Menschen, dessen ganze Komplexität zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt hat, befasst sich die Programmreihe "On Ageing and Care" — eine Tour durch Seniorenheime mit vielfältigen künstlerischen Beiträgen. Wie, so die Frage dabei, können wir alte Menschen mit Liebe, Respekt und Sorgfalt betreuen? Junge Menschen aus der Stadt werden ein eigenes Jugendorchester gründen.

Stärken: Es ist die emotionalste Bewerbung. Hildesheim gibt sich als mitfühlender Kümmerer und macht aus der Not eine Tugend, indem es seinen Status als Provinzstadt selbstironisch aufgreift.

Schwächen: Beim Lesen des Wohlfühl-Bewerbungsbuches beschleicht einen mitunter das Gefühl, dass arg viel auf den aktuellen Zeitgeist gesetzt wird. Und der kann in fünf Jahren ganz anders aussehen.

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