Eine Minute schief, dann schön: Das neue Album von "The Notwist"

27.1.2021, 15:13 Uhr
Micha Acher und Markus Acher sind die Mitglieder der Band The Notwist.

© Gerald von Foris, dpa Micha Acher und Markus Acher sind die Mitglieder der Band The Notwist.


Es sind angeblich 30 Sekunden, die dieser Tage über Musik entscheiden. So lange muss ein Song nämlich auf Spotify laufen, bis die Streaming-Plattform ihn zählt. Heißt: Bis Künstler und Label Geld dafür erhalten. So zumindest die These. Weswegen Songwriter gerade den Anfang von Songs intensiver und einfach voller machen. Aber zum Glück entscheiden noch andere Dinge über Musik. Alben wie "Vertigo Days" zum Beispiel, das mit einer Minute schiefen Tönen beginnt. Um dann abzutauchen in eine introvertierte Dringlichkeit aus melancholischen Beats und zurückgezogenem Gesang.

Wie ein psychedelischer Traum

"Wir wollten, dass die Platte einen mitreißt in verschiedene Richtungen und Atmosphären", sagt Cico Beck. Der 36-jährige Münchener stieg vor sieben Jahren bei The Notwist ein. "Uns war auch sehr wichtig, dass die einzelnen Lieder miteinander verschmelzen – also durch Übergänge oder extreme Schnitte. Wie ein psychedelischer Traum, teils unklar und düster und auch wieder hoffnungsvoll."


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Anders lässt sich "Vertigo Days" nicht verstehen. Es ist ein 50-minütiges Gesamtwerk, das sich nur so erschließt – am Stück. Songs wie "Exit Strategy To Myself" bieten zwar ein wenig Pop-Appeal, doch kurz darauf lässt sich "Ship" von einem treibenden Rhythmus durch seine vier Minuten scheuchen, der gegen jede Gefälligkeit erhaben ist.

"Es gab einige verschiedene Ideen, die wir hatten, da sich der ganze Prozess über einige Jahre hingezogen hat", so Beck. Eine zentrale Erfahrung: die Begeisterung der Band über das von ihr selbst initiierte und kuratierte Alien Disko Festival in München. "So gibt es einige Gastmusikerinnen und Gastmusiker auf dem Album, die zum Teil eine ganz tragende Rolle übernehmen. Uns ging es darum, die Band zu öffnen und internationale Gäste einzuladen – auch um ein politisches Zeichen zu setzen."

Das Cover des Albums "Vertigo Days" von The Notwist.

Das Cover des Albums "Vertigo Days" von The Notwist. © indigo

Da wären etwa die argentinische Songwriterin Juana Molina oder die Jazzmusikerin Angel Bat Dawid, die sich aber so natürlich und perfekt in dieses Album einfügen, dass sich das eben alles gar nicht nach Gastauftritt anhört. Auf "Vertigo Days" arbeitet eine Gruppe von Menschen an einer gemeinsamen musikalischen Idee, die sich hier ausdrückt. Es entstand ein entrückter, sensibler Sound, dessen ganze Essenz diese Zurückgezogenheit ausmacht.

"Erste Aufnahmen haben schon 2015 in unserem Studio in Weilheim mit der gesamten Band stattgefunden", so Micha Acher. "Das meiste wurde aber in den letzten zwei Jahren komponiert und in einem kleinen Studio in München aufgenommen."

Der 49-Jährige gründete die Band 1989 mit seinem Bruder Markus und Martin Messerschmidt, der heute nicht mehr bei The Notwist spielt. So kam aber einst das oberbayerische Weilheim auf die Landkarte der merk- wie liebenswürdigen Musik.

Aushängeschild einer lebendigen Szene

Bereits kurz nach der Gründung ging es für The Notwist schon ins Vorprogramm von Bad Religion, doch aus dem Punk und Metal der frühen Tage entwickelte sich jedoch bald ein ganz eigener, feinerer Sound. Mit "Neon Golden" von 2002 lieferten The Notwist dann ihr bis dahin bestes Album ab, das an Indie-Größen wie Radiohead und The Postal Service erinnerte. Nicht nur das deutsche Feuilleton nahm die Band wahr, auch ein internationales Publikum war auf einmal ganz Ohr.

The Notwist sind bis heute nicht nur Aushängeschild, sondern Antreiber einer lebendigen Musikszene rund um Weilheim, die zahlreiche Projekte hervorbrachte. Weswegen es so lange mit "Vertigo Days" dauerte. Aber aus den Anfangstagen ist die Einstellung geblieben: "Wir waren schon immer an neuer Musik interessiert und haben schon immer versucht, uns nicht ständig zu wiederholen." Ein Ansatz, der sich nicht für 30 Sekunden eignet. Aber für über 30 Jahre fantastischer Musik.

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