Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum stemmt XXL-Umzug

9.2.2021, 09:55 Uhr
Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. Bald steht hier ein großer Umzug an.

© picture alliance / dpa Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. Bald steht hier ein großer Umzug an.

"Bevor ein Stück eingepackt wird, muss es begutachtet, fotografiert und eventuell gereinigt werden und das Gute an der Pandemie ist der Zwang zur Digitalisierung einen eigenen Datensatz bekommen", erklärt Birgit Schübel, die den Umzug koordiniert – von der Logistik bis zum Bestellen von Regalen und Verpackungsmaterial wie Schaumstoff und Transportboxen, spezielle Folie, säurefreies Seidenpapier und hunderte Kartons.


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Jedes Teil – vom Knopf bis zum Himmelbett – muss vorher seinen exakten Platz in den fünf Geschossen des neuen Tiefdepots zugewiesen bekommen. Und zwar einen optimalen Platz, an dem das Klima passt, an dem die Stücke nicht verrutschen können und auf Podesten, in Schubladen oder Kartons gut und sicher lagern.

Auf den 3655 Quadratmetern neuer Nutzfläche kommen all die Gegenstände unter, die bislang im alten Depot im sogenannten Südbau lagern. Dieses Gebäude muss genauso wie der Südwestbau saniert werden. Heißt: Alles muss raus und in das Tiefdepot. Bei der derzeit laufenden Digitalisierung und Inventarisierung bekommen die Umzugs-Koordinatoren auch Hilfe von den Museumsaufsichten, deren Arbeit im geschlossenen Ausstellungshaus nicht gefragt ist. "Das hilft uns sehr und fördert auch enorm den Teamgeist", sagt Schübel.

Wie inventarisiert man die Stücke in einem Museum, das jeden Tag geöffnet hat? Corona gibt dem GNM dazu jetzt im Kaiserburg-Museum, der 1999 eröffneten Dependance des Stammhauses, die Gelegenheit. "Da haben wir Ruhe zum Inventarisieren, Fotografieren, Vermessen und Digitalisieren", sagt Markus Huber. Der zuständige Sammlungsleiter richtet parallel dazu aber auch neue Räume im Stammhaus ein. Zumindest gedanklich. Denn noch wird die sogenannte Mittelalterhalle, ein Bau der 1960er Jahre, bautechnisch und klimatisch saniert.

Ab 2023 sollen dort dann rund 150 Highlights des Spätmittelalters, also aus dem 15. Jahrhundert, ausgestellt werden. "Diese Sammlung hat internationales Niveau" sagt Huber und will dem Publikum bereits Ende dieses Jahres einen Ausblick auf die Neupräsentation geben. In einer Art "Hinter- den-Kulissen-Ausstellung" soll der Weg zur neuen Dauerschau anschaulich gemacht werden. Die wird auf breitere Füße gestellt – weniger kunsthistorisch als bisher, dafür stärker kulturgeschichtlich: Wie und wo wurde Kunst zur Dürer-Zeit produziert? Wie lief der Export? Und welche Rolle spielten die Heiligen im Leben der Menschen?

Die Vermittlung hört nicht auf, weil die Häuser zu sind", sagt Thomas Brehm. Als Leiter des Kunstund Kulturpädagogischen Zentrums (KPZ) in Nürnberg hat er sein Büro im GNM. Zuständig ist er mit seinem 15-köpfigen Team an Festangestellten aber für insgesamt 16 Ausstellungshäuser – vom Dürerhaus bis zur Kunsthalle. Rund 4000 Veranstaltungen – vom Kindergeburtstag im Museum bis zur Führung für Erwachsene – stemmt das KPZ in normalen Jahren. Jetzt weichen die Museumspädagogen aufs Digitale aus. Notgedrungen. Und das ist gut so, meint Brehm: "Wenn diese Pandemie etwas Gutes hat, dann ist es der Zwang zur Digitalisierung. Wir lernen da viel und sehen auch viele Vorzüge. Das wird ein wichtiges Standbein bleiben."


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Dabei gilt der eherne Grundsatz: Das KPZ sendet immer live mit einem Museumspädagogen im Studio. "Wir liefern keine Konserven", betont Brehm. "Und wir liefern nichts Kostenloses."Die Preise für die digitalen, maximal 90-minütigen Angebote, von denen es inzwischen einige gibt, liegen in etwa bei denen für die "analogen", also bei rund 35 Euro für eine Schulklasse oder drei bis sechs Euro pro Person bei Erwachsenen-Angeboten.

Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum stemmt XXL-Umzug

© Foto: Michael Matejka

Sehr umfassend ist zum Beispiel das Angebot für die ab 18. Februar geplante Ausstellung "Europa auf Kur: Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos". Es gibt Online-Angebote zu Medizingeschichte( n) aus Davos, den Bergen als Ort existenzieller Erfahrungen oder zur Geschichte des Wintersports dort.

Anja Löchner hat durch Corona deutlich mehr Arbeit. Als Registrarin koordiniert sie die Leihgaben, die das Haus in alle Welt verlassen. Derzeit sind Kostbarkeiten des GNM zum Beispiel im Louvre in Paris, im Bayerischen Nationalmuseum in München und in der Fondation Beyerler in Riehen bei Basel – insgesamt rund 40 Objekte sind unterwegs. Kommende Woche geht eine Lieferung nach Nimwegen in den Niederlanden. Es ist keineswegs so, dass der Leihverkehr wegen Corona eingestellt ist, schließlich wollen die Museen ihren Besuchern ja auch nach dem Lockdown etwas bieten. Für jede Leihgabe müssen Verträge geschlossen, Speditionen für den Transport beauftragt, Versicherungen abgeschlossen werden.

Weil kaum ein Museum derzeit offen hat, wollen alle ihre bereits fertigen Ausstellungen verlängern. Oder sie müssen geplante Projekte verschieben. Dann werden sie bei Anja Löchner vorstellig. Sie muss dann die Verträge ändern, Speditionen umlenken, Versicherungen informieren, sich schriftlich geben lassen, dass die Stücke auch in den geschlossenen Museen sicher und klimatisch optimal verwahrt sind.

Kein einziges Mal musste sie Bitten nach neuen Leihzeiträumen bislang abschlagen, sagt sie und betont: "Seit dem ersten Lockdown sind rund 70 Prozent der Leihgaben von Verschiebungen betroffen."

70 Prozent der Leihgaben sind betroffen von Verschiebungen

Einen "ganz besonders traurigen Fall" schildert sie aus Wolfsburg. Dorthin, in die Ausstellung "In aller Munde", hatte sie unter anderem einen Holzschnitt von Lucas Cranach geschickt. "Zwei Tage war die Ausstellung offen, dann musste sie schließen." In normalen Zeiten kommen rund 100 Leihanfragen im Jahr rein. Dabei geht es manchmal um ein Werk, manchmal um Dutzende. Mit Corona sind die Anfragen gesunken. Viele Kuratoren trauen sich nicht, wirklich zu planen. Da im Ausstellungsgeschäft große zeitliche Vorläufe normal sind, bearbeitet Löchner jetzt bereits Anfragen für 2022 und später.

In der großen Ausstellungshalle kommt derzeit Urlaubsfeeling auf: Bergpanoramen erheben sich an den Wänden. Darunter: geschäftiges Treiben. Der Aufbau der neuen Sonderschau "Europa auf Kur – Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos" ist im Endspurt — und trotz Corona weitgehend im Zeitplan. Der Einsatz der Handwerkerteams wurde entzerrt. "Normalerweise arbeiten drei bis vier Teams gleichzeitig, jetzt nur zwei", sagt GNM-Sprecherin Sonja Mißfeldt. Ab 18. Februar wird alles fix und fertig sein. Wann auch immer wieder geöffnet werden darf: Die Ausstellung steht bereit.


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In sieben Kapiteln zieht sie Verbindungslinien zwischen Medizin- und Kurgeschichte, Wintersport, Kunst und Literatur, Philosophie und Politik. Von den rund 250 Exponaten sind laut Ausstellungsleiter Tilo Grabach vier Fünftel Leihgaben. Highlights sind natürlich die rund 50 Gemälde und Grafiken von Ernst Ludwig Kirchner, die nun nach und nach eintreffen. Seine Kaffeemühle ist schon da: mit Kühen und Ziegen handbeschnitzt vom Künstler.

Homeoffice für Restauratoren?

"Das geht nur bedingt für Schreibtischarbeiten", sagt Oliver Mack. Er ist Leiter des Instituts für Kunsttechnik und Konservierung und hat auch während Corona viel zu tun: Vor dem Umzug ins neue Tiefdepot werden viele Stücke noch einmal begutachtet. Für die neuen Dauerausstellungen zur Handwerks- und Medizingeschichte müssen Ausstellungsstücke hergerichtet werden. Und auch für die Neubestückung der Spätmittelalter- Halle.

Für diehat Charlotte Hagedorn derzeit einen ganz besonderen "Patienten" auf dem Tisch: Das Mittelteil eines Altars aus dem 15. Jahrhundert. "Er ist stark verschmutzt und es fehlt viel", sagt die Restauratorin über das anderthalb Meter große Kunstwerk aus Lindenholz, das aus der Allerheiligenkirche in Kleinschwarzenlohe stammt. Gerade testet sie, wie der Goldglanz am besten zurückzubringen ist für dieses Stück, das 1879 ins GNM kam und seit Jahrzehnten nicht ausgestellt war. Ein schwieriger "Patient", der viel Pflege und geduldige Zuwendung braucht. Hagedorn wird Monate damit beschäftigt sein.

Was tut ein Chef im geschlossenen Haus? Nachdenken über die Rolle von Museen im Allgemeinen und des GNM im Besonderen. Wenn denn Muße dafür ist. "Videokonferenzen kosten viel Zeit", sagt Direktor Daniel Hess. Sein Haus mit den 237 Mitarbeitern möchte er weltweit stärker vernetzen. Es soll internationaler wahrgenommen werden. Im April steht die nächste Evaluierung durch die Leibniz-Gemeinschaft an. Dabei gut abzuschneiden, ist enorm wichtig – für die Reputation und für die Finanzierung als Forschungsmuseum. Hess kämpft um sieben neue Stellen. Die wollen wohlbegründet sein: "Wir sollen mehr mit Unis kooperieren, stärker als außerschulischer Lernort auftreten, digitaler werden, andere Museen beraten, und, und, und", sagt er. Das gehe nur mit mehr Personal.

Als Schweizer freut er sich aber jetzt erstmal auf die Berge. Schließlich war die Davos-Schau seine Idee

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