Soziologinnen erklären: Warum Menschen Rituale brauchen

21.12.2020, 08:16 Uhr
Soziologinnen erklären: Warum Menschen Rituale brauchen

© Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Kein Erlanger Berg mit den alten Kommilitonen, kein jährliches Wellnesswochenende mit den Freundinnen. Aber auch keine großen Hochzeiten, keine Geburtstagsfeste oder Verabschiedungen in den Ruhestand. Und jetzt auch noch Weihnachten und Silvester im Lockdown. 2020 hat uns fast alle wichtigen Rituale genommen, oder?


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Annerose Böhrer: Ritual ist ein sehr aufgeladener Begriff. Erstmal ist es sehr interessant, wer etwas als Ritual bezeichnet und warum. Wenn wir alltagssprachlich etwas als Ritual bezeichnen, meinen wir damit oft etwas Altes, kulturell tief Verankertes. Es kommt also auch darauf an, wer welchen Begriff nutzt. Es fühlt sich unterschiedlich an, ob ich sage: "Die Silvesterparty muss ausfallen", oder ob ich sage "Das Silvesterritual muss ausgesetzt werden".

Genau genommen sind die Dinge, die wir oben aufgezählt haben, gar keine Rituale? Dennoch gibt uns Corona genau das Gefühl: Dass uns tief verankerte Dinge genommen werden, selbst wenn es nur der jährliche Umtrunk am Christkindlesmarkt ist.

Larissa Pfaller: Nicht alles, was wir regelmäßig wiederholen, ist gleich ein Ritual. Von einem Ritual sprechen wir eher, wenn diese Handlungen auch symbolisch sehr aufgeladen sind. In früheren Gesellschaften haben Rituale die Gesellschaft strukturiert, diese große Funktion erfüllen unsere heutigen Rituale nicht mehr, dafür haben wir das Recht und die Bürokratie. Aber natürlich können auch regelmäßige Gewohnheiten wichtig sein. Und ja, die wurden von Corona angegriffen.

Gerade Silvester ist voller Rituale: Raclette oder Fondue, Dinner for One, der Blick in die Zukunft, das gemeinsame Anstoßen, Countdown um zwölf und dann noch die Böllerei. Warum haben wir gerade in diesen Tag so viel reingepackt?

Pfaller: Rituale haben immer mit schwer greifbaren Dingen zu tun, Übergang ins Erwachsenenleben, Tod, da gehört der Jahreswechsel auch dazu. Deshalb bauen wir da viel drum herum. Ein Ritual hat außerdem immer einen performativen Charakter. Ich tue etwas, das andere sehen oder erfahren, es reicht nicht, dass ich mir das für mich vorstelle. Denken Sie an das Ja-Wort bei einer Hochzeit, es muss ausgesprochen werden und die Gemeinschaft muss es anerkennen.

Das Feuerwerk ist ein Dauerthema an Silvester, warum ist gerade das vielen so wichtig?

Böhrer: Silvester wird auch als Neuanfang verstanden, und um einen Neuanfang oder Endpunkt zu markieren, finden sich in verschiedenen Kulturen, Zeiten und an verschiedenen Orten immer wieder auch ähnliche Handlungselemente, die uns offenbar dafür geeignet erscheinen: Man vergräbt etwas, man wäscht etwas oder man verbrennt etwas. Wir verbrennen gerne etwas, vertreiben das alte Jahr mit lautem Knallen und geben dem Ganzen mit Alkohol eine rauschhafte Komponente.


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Dieses Jahr wird Silvester anders laufen. Gibt es Alternativen zu solchen Ritualen?

Böhrer: Auch wenn wir unsere Silvesterfeierlichkeiten als ‚Rituale‘ bezeichnen, heißt das nicht, dass sie unveränderlich sind und sich nicht auch vor Corona schon immer wieder verändert haben. Wenn ich also eine Alternative zum Feuerwerk oder zum Raclette finden will, kann ich mir zum Beispiel überlegen: Welche Funktion erfüllt das eigentlich für mich? Soll es etwas Besonderes sein, etwas Festliches? Dann mache ich das Raclette vielleicht auch nur zu zweit, auch wenn sich das eigentlich nicht lohnt. Corona hat ja an vielen Stellen immer wieder auch kreative Lösungen hervorgebracht, vielleicht zeigt sich das auch an Silvester.

Wenn wir die Bedeutung von Weihnachten und Silvester vergleichen, macht aber Weihnachten eindeutig das Rennen.

Pfaller: Ja, da ist die Wertigkeit in der Gesellschaft ganz klar. Diese Wichtigkeit markieren wir oft mit dem religiösen Verweis, aber tatsächlich ist in der Lockdown-Diskussion selten die Rede davon, dass wir die Geburt Jesu feiern wollen, sondern dass wir das Familienfest nicht aufgeben möchten. Wir unterstreichen das wichtige Bedürfnis, Ruhe zu finden und mit anderen Menschen zusammenkommen zu wollen, mit dem Verweis auf die Religion. Denken Sie an die Aufregung, als ein Konditor Nikoläuse mit Maske hergestellt hat. Aus dieser Empörung lässt sich auch herauslesen, dass Menschen hier durch Corona ihre Grundfesten erschüttert sehen.

Gerade an diesem hochemotionalen Fest werden geliebte Rituale und Gewohnheiten wegfallen. Der eine sieht die Oma nicht, der andere geht nicht in den Gottesdienst. Diese Dinge lassen sich nicht so leicht ersetzen wie ein Feuerwerk an Silvester.

Pfaller: Manches lässt sich nicht schönreden, die Einsamkeit vieler älterer Menschen zum Beispiel. Aber wir können die jetzigen Bedingungen besser akzeptieren, wenn wir uns klarmachen, warum wir auf etwas verzichten und dies auch nicht als Folge von Verboten, sondern als Folge unserer Verantwortung verstehen. Ich nehme mich zurück, um andere zu schützen. Damit komme ich der eigentlichen Bedeutung von Weihnachten sogar näher. Wenn ich diese Brille aufsetze, bin ich mir meiner eigenen Handlungskompetenz bewusst und habe nicht nur das Gefühl, dass Weihnachten "geklaut" wurde.

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