Whataboutism in den Netzwerken

Darf man in Nürnberg tanzen, während in der Ukraine Krieg herrscht?

Christian Urban

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6.3.2022, 11:58 Uhr
Bars und Clubs durften am Wochenende nach langer Corona-Pause endlich wieder öffnen.

© Stefan Hippel, NNZ Bars und Clubs durften am Wochenende nach langer Corona-Pause endlich wieder öffnen.

Zugegeben: Wir wussten, was kommen würde. Schon in dem Moment, als wir die Bilder der feiernden Nürnbergerinnen und Nürnberger auf Facebook posteten, die sich freuten, dass nach gefühlt zwei Jahren Corona-Ausnahmezustand endlich wieder die Clubs und Discos öffnen, war uns klar, dass die vorherrschende Emotion nicht Freude sein würde, sondern Empörung. Schließlich herrscht Krieg in Europa, seit Wladimir Putin Ende Februar in einem Anfall postsowjetischer Großmannssucht die Ukraine überfallen hat.

"Geschmacklos ist das die im Krieg haben kein Dach mehr und nichts mehr zu essen und hier gehen sie feiern net normal!" oder "Wie kann man nur ans feiern denken? Andere Leute die im Krieg brauchen mehr Hilfe als sowas. Sowas zu sehen ist erbärmlich Leute feiern lieber als andere zu helfen" war da zu lesen. Diese Unterart des klassischen "Whataboutism" (der Versuch, die Diskussionshoheit zu behalten, indem man auf ein anderes und vermeintlich wichtigeres Thema verweist) gehört ermüdenderweise ebenso zu den Netzwerken wie Fake News und Katzenvideos. Dabei ist diese plakative Empörung über die vermeintliche Unmenschlichkeit der Feiernden das wahrhaft Unmenschliche.

Werfen wir einen Blick auf die vergangenen zwei Jahre. Als die dpa an Silvester 2019 erstmals von einer "mysteriösen Lungenkrankheit" berichtete, die in China aufgetreten sei, konnte sich wohl niemand vorstellen, dass daraus ein zweijähriger (und nach wie vor andauernder) Ausnahmezustand mit diversen mehr oder weniger harten Lockdowns resultieren würde. Nun erscheint nach dieser langen Zeit endlich wieder ein Licht am Ende des Tunnels, es gibt Öffnungsperspektiven und sogar die Hoffnung auf die absehbare Rückkehr der Normalität - und dann überfällt eine marode Atommacht ein missliebiges Nachbarland. In Europa.

Kurz gesagt: Wir rutschen direkt von einem kräftezehrenden, zermürbenden und beängstigenden Ausnahmezustand in den nächsten. Und dank des ungefilterten Nachrichtenstroms in den sozialen Netzwerken werden wir auch im Ukraine-Krieg wieder überschwemmt von zahllosen Bildern, Videos und Nachrichten. Manche davon sind authentisch, andere nicht - furchtbar sind sie dennoch alle. Der psychische Dauerstress, der vor zwei Jahren begonnen hat, geht also weiter. Nur eben anders.

Wer der Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch bewusst erlebt hat, gut zugehört hat, kennt vielleicht Geschichten aus den Luftschutzbunkern, wenn gerade einmal keine Bomben fielen. Manchmal, wenn jemand zufällig ein Grammophon mitgebracht hatte, legten die Menschen in dieser Ruhe (von der sie nie wussten, wie lange sie anhalten würde) Schallplatten auf. Und dann tanzten sie. Mitten im Krieg. Einfach nur, um für einen kleinen Moment die Schrecken der Welt zu vergessen.

Selbstverständlich ist diese permanente und unmittelbare Lebensgefahr nicht einmal ansatzweise mit der derzeitigen Situation der jungen Nürnbergerinnen und Nürnberger zu vergleichen, die am Wochenende die Clubs und Discos der Stadt förmlich überrannt haben. Aber kann man ihnen daraus wirklich einen Vorwurf konstruieren, dass sie die Gelegenheiten zum Feiern genutzt haben? Würde es die schreckliche Situation in der Ukraine auch nur minimal ändern, wenn sie daheim geblieben wären?

Niemand weiß, was kommen wird. Wir wissen nicht, ob sich das von Putin entzündete Feuer zu einem europäischen oder gar globalen Flächenbrand ausweiten wird. Wir wissen ebenfalls nicht, ob Corona nicht noch ein paar weitere schmutzige Tricks auf Lager hat und die nächsten Virus-Varianten - anders als Omikron - vielleicht wesentlich gefährlicher sind und erneut zu vielen Toten und nötigen Lockdowns führen.

Über zwei Jahre haben die jungen Menschen auf viele Dinge verzichten müssen, die die Jugend und das junge Erwachsenenleben so lebenswert machen. Und es ist durchaus vorstellbar, dass in absehbarer Zeit noch weitere Katastrophen auf sie warten (der Klimawandel ist nur eine davon). Wenn sie jetzt, da es gerade endlich einmal wieder möglich ist, feiern gehen wollen, lasst sie einfach. Sie haben es sich verdient.

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