"Für eine Rückkehr nach Äthiopien ist es viel zu früh"

18.11.2018, 17:06 Uhr

© Foto: Eduardo Soteras/afp

"Jetzt hat eine neue Phase angefangen. Wir jubeln mit der Regierung", freut sich Girma Gebremedhin. Die Äthiopier hofften nun, dass das "ethnische Mobbing", das seit Jahren für Chaos gesorgt hat, endlich ein Ende habe. Der 60-Jährige lebt seit mehr als 30 Jahren in Nürnberg. Aber natürlich verfolgt er genau, was in seiner alten Heimat vor sich geht. Und den Wechsel, der sich im vergangenen Frühjahr ereignet hat, den hätte bis vor kurzem niemand für möglich gehalten.

Seit April ist mit Ministerpräsident Abiy Ahmed zum ersten Mal ein Vertreter der größten Ethnie, der Oromo, an der Spitze der Regierung. Vier Jahre lang hatten die Oromo, die offiziell 34 Prozent der 105 Millionen Einwohner stellen, vehement gegen Unterdrückung und Vertreibung demonstriert. Zehntausende wurden ins Gefängnis geworfen, gefoltert, vergewaltigt, Tausende wurden erschlagen, viele Politiker getötet. Und Hunderttausende flohen, auch nach Deutschland. In Nürnberg leben mehr als 1000 äthiopische Flüchtlinge.

Risse in der Führung

Letztlich führten Risse in der politischen Führung zu einem Wandel. Der alte Regierungschef musste abtreten. Im April wurde Abiy, der nach äthiopischer Tradition offiziell mit seinem Vornamen angesprochen wird, zum Ministerpräsidenten ernannt.

Die Reformen, die er einleitete, sind atemberaubend. Der 42-Jährige ließ Tausende Gefangene frei. Er verkündete eine Amnestie, hob den Ausnahmezustand auf, versprach Pressefreiheit und ein Ende der ethnischen Unterdrückung. Zudem beendete er die Feindseligkeiten mit Eritrea, das sich 1993 abgespalten hatte. Der Konflikt hatte 80.000 Tote gefordert. Auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller kommt aus dem Staunen kaum heraus. "Seit meinem Besuch im vergangenen Jahr haben bislang kaum für möglich gehaltene Veränderungen stattgefunden", lobt der CSU-Minister. Der äthiopische Oppositionspolitiker Dessalegn Chanie Dagnew ist da vorsichtiger. "Abiy hat große Unterstützung", freut er sich, warnt aber: "Die Regierung ist weiter an der Macht."

Was Dessalegn damit meint: Die Vierparteien-Koalition "Revolutionäre Front der Äthiopischen Völker" (EPRDF) ist noch immer an allen Hebeln. Nur theoretisch ist das ostafrikanische Land eine Mehrparteiendemokratie. Praktisch haben Vertreter der Tigre-Minderheit seit Jahrzehnten in Politik wie Wirtschaft das Sagen. Auch Abiy trauen noch nicht alle vorbehaltlos über den Weg. Der gelernte IT-Spezialist war stellvertretender Direktor des Cyber-Nachrichtendienstes Insa, der als Mittel der Unterdrückung galt. Dann aber wechselte Abiy in die Politik und errang 2010 für seine Oromo-Partei OPDO einen Sitz im Parlament. Kurz war er sogar Minister für Wissenschaft und Technologie. Dass er es auf den Sessel des Ministerpräsidenten schaffte, hat mit der Krise zu tun.

Der Oppositionspolitiker Dessalegn gehört der Volksgruppe der Amhara an, die ebenfalls ein Drittel der Bevölkerung stellt. Derzeit bereist der 37- Jährige Amhara-Gruppen in ganz Deutschland, um für seine NaMA-Partei (National Movement of Amhara) zu werben. Die Partei wurde erst vor fünf Monaten gegründet, soll aber schon 200.000 Mitglieder haben. Wie kann das sein, dass eine so große ethnische Gruppe bisher keine eigene Partei hatte? Immerhin galten die Amhara als alteingesessene Herrscherklasse. "Wir wollen uns eigentlich nicht als Amhara organisieren, sondern als Äthiopier", erklärt Girma Gebremedhin diesen Umstand. Man wolle weg von diesen ethischen Unterscheidungen – in einem Staat mit mehr als 80 verschiedenen Ethnien kein einfaches Unterfangen.

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Allerdings wollen die Amhara diesmal vermeiden, was sich 1991 ereignet hat, als Diktator Mengistu Haile Mariam gestürzt wurde. Damals wurde auf einer Konferenz in London die Zukunft Äthiopiens verhandelt. Vertreten waren aber nur die Eritreer, Tigre und Oromo, nicht aber die Amhara. Das soll sich nicht wiederholen.

Von dem als Heilbringer gefeierten Regierungschef Abiy verlangt der Oppositionspolitiker Dessalegn nun nicht nur Versprechen, sondern institutionelle Reformen. Äthiopien brauche eine neutrale Wahlkommission, unparteiische Gerichte, und auch die Armee müsse die ganze Bevölkerung Äthiopiens widerspiegeln.

In Deutschland denken etliche Politiker angesichts des Reformwandels in Äthiopien schon daran, dass Flüchtlinge nun wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten – auch Abiy rief zur Rückkehr auf. Die EU hat sich auch mit Äthiopien auf ein Abschiebeabkommen für abgelehnte Flüchtlinge geeinigt. Doch Girma Gebremedhin hält diese Debatte für total verfrüht. "Das Land ist immer noch im Chaos", warnt er.

An Saudis verscherbelt

Trotz eines Wirtschaftswachstums von zuletzt gut acht Prozent ist Äthiopien eines der ärmsten Länder der Welt. Zudem ist das Problem der Landvertreibung, das für die massenhaften Proteste gesorgt hatte, völlig ungelöst. In der Vergangenheit wurden riesige Landflächen für Spottpreise an ausländische Investoren verscherbelt, vor allem an Chinesen und Saudis. "Der Südwesten Äthiopiens heißt heute Saudi-Staat", sagt Girma.

Aus Sicht des Oppositionspolitikers Dessalegn setzt auch die deutsche Entwicklungspolitik an der falschen Stelle an. "Ein Großteil der Gelder wird für humanitäre Hilfe ausgegeben", kritisiert er. "Äthiopien braucht aber Entwicklungsprogramme."

Regierungschef Abiy steht also noch vor riesigen Herausforderungen – ganz abgesehen davon, dass vor kurzem auch ein Attentat auf ihn versucht wurde. Immerhin, für den Wandel könnte er der richtige Mann sein. Er hat einen Masters-Abschluss in "Change Management", und seine Doktorarbeit handelt von Konflikt-Mediation.

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