Grüne lösen SPD als neue Nummer zwei im Lande ab

26.5.2019, 20:54 Uhr
Der starke Stimmenzuwachs bei den Grünen verdeutlicht die Erosion der Volksparteien. Deren Spitzenkräfte müssen nun die Verantwortung für die schlechten Ergebnisse übernehmen.

© Kay Nietfeld, dpa Der starke Stimmenzuwachs bei den Grünen verdeutlicht die Erosion der Volksparteien. Deren Spitzenkräfte müssen nun die Verantwortung für die schlechten Ergebnisse übernehmen.

Europa hat gewählt, Bremen hat abgestimmt und das politische Berlin ist in seinen Grundfesten erschüttert: Denn die Grünen haben erstmals bei einer bundesweiten Abstimmung die SPD als zweite Kraft im Lande abgelöst. Weil auch die Union bei den Wahlen zum Europäischen Parlament massive Verluste verkraften muss, schreitet die Erosion der großen Volksparteien munter voran.

Die Tage der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles sind gezählt, sie ist nurmehr auf Abruf im Amt – Nahles muss die Verantwortung für den desaströsen Absturz auf Platz drei im Parteiensystem übernehmen. Die sozialdemokratische Frontfrau ist noch aus einem anderen Grund nicht mehr lange im Amt zu halten. Denn auch in Bremen, dem einzigen Bundesland, das über 73 Jahre lang ununterbrochen von der SPD regiert worden ist, könnte der Machtwechsel bevorstehen.

Ungemütliche Tage für Nahles und AKK

Ungemütlich droht es aber auch für CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zu werden. Sie darf sich zwar mit der vagen Aussicht, den Regierenden Bürgermeister in der Hansestadt stellen zu können, trösten, muss aber als Parteichefin für gewaltige CDU-Verluste geradestehen, konkret: für das schlechteste Ergebnis der Union bei einer bundesweiten Abstimmung.

Die Schuldfrage wird schon bald bei der CDU-Klausur gestellt werden: Die Doppelspitze, hier AKK, dort eine dem politischen Alltag entrückte Außenpolitik-Kanzlerin Angela Merkel, hat wohl keine Zukunft.

Gleiches gilt für die Große Koalition, der nun endgültig das Stigma eines Bündnisses der Wahlverlierer anhaftet. Derzeit lebt dieser Pakt nurmehr von den Lippenbekenntnissen der beteiligten Parteien – und von deren Angst, bei vorgezogenen Neuwahlen erneut abgestraft zu werden. Spätestens im Herbst, wenn Landtagswahlen im Osten Deutschlands weitere Pleiten für CDU und SPD nach sich ziehen könnten, könnte das Totenglöcklein für die Bundesregierung läuten.

Über kurz oder lang führt ohnehin kein Weg mehr an einer Regierungsbeteiligung der
Grünen in Berlin vorbei. Sie verfügen aus mehreren Gründen über beste Perspektiven. Was sich bei den bayerischen Landtagswahlen schon angedeutet hat, schlägt nun auf Bundesebene voll durch. Grün ist das neue Rot in der Bundespolitik.

Kein temporäres Phänomen

Jede fünfte Stimme können die Bündnisgrünen für sich reklamieren. Mehr als jemals zuvor. Grüne und CDU liegen fast auf Augenhöhe – auch das ist eine echte politische Sensation. Dass es sich dabei um kein temporäres Phänomen handelt, zeigt der Blick in die Wählerstatistik – bei den jungen Menschen punktet die Öko-Partei ungebrochen, vor allem wegen ihrer klaren klimapolitischen Positionierung. Wie überhaupt die Sorge um die Zukunft unserer Umwelt wahlentscheidend war. Den Grünen wird dabei am meisten zugetraut.

Die Wachablösung der Sozialdemokraten als zweitstärkste Kraft könnte also durchaus von Dauer sein – außer es gelingt der SPD in der Nach-Nahles-Ära, wieder stärker wahrgenommen zu werden. Ein Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, bislang stets die reflexartige Antwort der Sozialdemokraten nach Wahlschlappen, genügt für eine glaubwürdige Erneuerung nicht. Stattdessen müsste die SPD auch klimapolitisch deutlich an Profil zulegen. Das Herumgeeiere, wie es etwa beim zögerlichen Kohleausstieg zu beobachten war, goutieren weite Teile der jüngeren Wählerschaft nicht.

Erkennbar ist die dringend gebotene Wandlungsfähigkeit derzeit nicht einmal ansatzweise. Das Wahlergebnis um die 15 Prozent spricht Bände. Den Status "Volkspartei" können die Sozialdemokraten kaum mehr für sich reklamieren.

Erfreulicherweise gilt das auch für die Rechtspopulisten in Europa. Groß war die Angst, dass die Fraktion der nationalistisch orientierten Neinsager sprunghaft anwächst. Danach sieht es nicht aus. Die schweigende Mehrheit, die vor allem bei Europawahlen den Urnen fernblieb, hat sich dieses Mal auf den Weg in die Wahllokale gemacht. So viel Europa war nie – die hohe Wahlbeteiligung zeugt von einem erfreulichen Perspektivwechsel.

Viele Menschen haben von den platten Sprüchen der Rechtspopulisten genug. Das ist sowohl am AfD-Resultat in Deutschland abzulesen als auch in Österreich: Dort hat die Ibiza-Affäre den Höhenflug der FPÖ gebremst. Für Entwarnung ist es noch zu früh, denn im neuen Straßburger Parlament sitzen viele erklärte EU-Gegner. Dennoch lässt das Wahlergebnis hoffen. Dass die CSU auf ein akzeptables Resultat blicken darf, ist vor allem auf einen explizit europafreundlichen Wahlkampf zurückzuführen.

Späte Läuterung

Vor fünf Jahren hatten die Christsozialen noch auf unsägliche Art gegen Brüssel gepoltert. Dieses Mal schlugen Markus Söder und Manfred Weber ganz andere Töne an. Eine späte Läuterung, die sich ausgezahlt hat. Das ist die erfreulichste Botschaft des europäischen Wahlmarathons – Europa, konkret: die EU hat eine Zukunft.

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