Ottmar Misoph: Der Leuchtturmwärter räumt das Feld

19.7.2020, 06:05 Uhr
Ottmar Misoph: Der Leuchtturmwärter räumt das Feld

© Foto: Tobias Tschapka

Die Einrichtung sei ein "Leuchtturm", so wurde ihm mehrfach attestiert. Denn Misoph hat eine neue Schule geschaffen. Eine für alle – Groß und Klein, Stark und Schwach, mit Handicap und ohne. Sein Credo: "Jeder ist anders. Man muss die einzelnen Schüler da abholen, wo sie stehen." Dazu brauche es neue Lehr- und Lernformen, eine andere Lernumgebung und viel Autonomie auf Schülerseite. Ottmar Misoph hat das in Thalmässing verwirklicht, "gemeinsam mit einem starken Kollegium". Am 22. Juli wird nochmal gefeiert; am 24. Juli, seinem 66. Geburtstag, verlässt er sie dann – Schule, Kollegen, Kinder. Mit vielen "Zufriedenheitsmomenten" im Bauch. Ein Interview.

Nicht schwindeln, Herr Misoph: Wie viel Zeit verwenden Sie täglich darauf, über Schule zu reden – beruflich und privat?

Ottmar Misoph: Auch wenn mir das vielleicht keiner glaubt – ich selber spreche daheim kaum über die Schule. Eher meine Frau, die ist auch Lehrerin. Ich bleib´ dann aber lieber in der Zuhörerrolle.

Sind Sie eigentlich ein guter Lehrer?

Ottmar Misoph: Puh...! Viele Schüler und Eltern haben mir das im Lauf meines Berufslebens zumindest rückgemeldet. Wahrscheinlich bin ich nicht schlecht, aber es gibt sicher auch bessere.

Was ist denn in Ihren Augen ein fähiger Pädagoge?

Ottmar Misoph: Jemand, der die Schüler wertschätzt, einen positiven, emotionalen Bezug zu ihnen hat; der sie da abholt, wo sie stehen; der das auch sachlich-fachlich im Unterricht umsetzen kann, und der seinen Beruf aus Leidenschaft macht.

Ende der 1970er Jahre sind Sie als Junglehrer in den Schuldienst eingetreten. Damals wehte aber ein ganz anderer Wind in den Klassenzimmern.

Ottmar Misoph: Klar, da waren oft noch Frontalunterricht und strengere Hierarchien angesagt! Ich hatte allerdings Glück: An der Volksschule Spalt bin ich gleich mal auf den Schulleiter Horst Hauck getroffen. Ein hoch qualifizierter Pädagoge – für die damalige Zeit sehr offen, schülernah, nicht so verbissen, er hat die Kinder ernst genommen. Auch Hans-Ulrich Sengenberger, mein Betreuungslehrer in Spalt, war einer, dem seine Schüler wichtig waren, der ihre Möglichkeiten gesehen hat. Solche Lehrerpersönlichkeiten haben mir immer imponiert und mich geprägt – das hat die Lehrerausbildung an der Uni leider nicht geschafft.

Und Sie hatten schon früh das Gefühl, dass sich Schule verändern muss?

Ottmar Misoph: Mehr so intuitiv, zuerst ohne konkrete Vorstellung. Ich hab' halt vieles ausprobiert. Das kam gut an bei den Schülern, also macht man weiter. Diese Veränderungen haben ja auch Spaß gemacht ...

Wo und wie haben Sie dann Ihre ersten konkreten Schritte in Richtung einer 'anderen Schule' gelenkt?

Ottmar Misoph: Irgendwann dachte ich: Schulleitung wär' schon was! Aber bei diesem Vorhaben standen mir zunächst die Politik und mein Parteibuch im Weg (Ottmar Misoph war jahrelang im Stadtrat Spalt und im Kreistag für die UWG/FW aktiv, Anm. d. Red.). Denn damals galt die Devise: Mitgliedschaft in der CSU, im Personalrat und im Bayerischen Lehrerinnen-/Lehrerverband – nur so kann's was werden! Das hatte der Ottmar Misoph aber nicht vorzuweisen. Also unterrichtete ich 17 Jahre an der Volksschule Abenberg, bevor man mich 1998 endlich als Konrektor nach Thalmässing ließ. Ich denke im Nachhinein, ich wurde zum Scheitern dorthin versetzt.

Wie bitte?

Ottmar Misoph: Sagen wir so: Die Schule genoss nicht den besten Ruf. Es gab Beschwerden von Eltern, problematische Zustände in etlichen Bereichen. Einige im Kollegium verharrten in alten, starren Mustern. Diplomatisch gesprochen: Die Situation in Thalmässing war äußerst schwierig. Es bestand Handlungsbedarf!

Als Sie dann 2002 Thalmässinger Rektor wurden und einen Kurswechsel im Schulkonzept einleiteten, hat man dort also nicht unisono 'Hurra!' geschrien? Komfortzone verlassen, bekannte Pfade wechseln, sich auf Neues einlassen ...

Ottmar Misoph: Nein, das kam nicht bei allen gut an. Es gab aber auch Kollegen, die bereits erfolgreich auf der Bahn liefen – doch leider hatte keiner das Flutlicht für sie angeschaltet, wenn Sie verstehen, was ich meine. Grundschullehrer Karlheinz Seefeld lag damals schon die Individualisierung seiner Schüler am Herzen, er gab ihnen Raum im Unterricht. Und Erika Pfeffer hat in hoher Qualität Förderarbeit geleistet. Von ihr stammt auch das Motto: "Stärken stärken durch eigenaktives Lernen". Daran ließ sich wunderbar anknüpfen und so war es nur konsequent, dass wir 2004 den ersten Inklusionsschüler bei uns aufgenommen haben.

Trotzdem. Ihr Stil hat Ihnen im Lauf der Zeit auch einiges an Kritik eingetragen. Schließlich sind Sie ganz schön vorgeprescht ...

Ottmar Misoph: Ich weiß, ich weiß: Diktator, Bestimmer, Choleriker. Solche Charakteristika kursieren über mich. Ich habe sicher viele Schwächen – aber cholerisch? Ich stülpe dem Kollegium auch nichts über, die meisten hier ziehen am selben Strang. Da fahren Kolleginnen in den Herbstferien freiwillig nach Bremerhaven, um sich eine Modellschule anzuschauen – aus Interesse. So was kann ich niemandem verordnen!

Da gibt eine Mutter die Devise aus, wir seien die "Schule der offenen Türen und offenen Herzen". Glauben Sie, ich hätte der das in den Block diktiert? Da sagt ein Schüler den Juroren des Deutschen Schulpreises: "Sie sind hier an der Schule der hundert Möglichkeiten. Und wenn das jemandem nicht reicht, dann kriegt er auch noch die 101. Möglichkeit." Bei solchen Aussagen haut´s mich selber vom Stuhl, das hab' ich keinem eingeimpft, aber da weiß ich: Wir machen viel richtig.


Jury vor Ort: Der Deutsche Schulpreis 2020 könnte nach Thalmässing gehen


Scheint so. Inzwischen geben Ihnen zahlreiche Auszeichnungen recht: Zweimal heimsten Sie den Innovationspreis für Innere Schulentwicklung ein. Thalmässing hat verbrieftermaßen eine "Starke Schule" und wurde darum mit dem Preis "Umgang mit Vielfalt" durch Joachim Gauck geehrt. Sie erhielten als erste und bisher einzige Schule in Bayern den Jakob-Muth-Preis für Inklusion, waren drei Jahre digitale Modellschule und hatten fünf Jahre einen "Modus"-Status, um in Sachen Schulentwicklung zu experimentieren. Gerade wurden Sie für den Deutschen Schulpreis nominiert als eine der 15 besten Schulen Deutschlands. In diesem Kontext fordere ich jetzt ein Kunststück von Ihnen: Skizzieren Sie doch mal kurz, worin sich Ihre Schule maßgeblich von anderen unterscheidet.

Ottmar Misoph: Prinzipiell geht´s immer darum: Der Schulalltag soll bis ins Detail so gestaltet sein, dass eigenaktives Lernen gelingt. Unsere Leitfragen dazu lauten: Wie müssen die Räume aussehen? Welche Methoden bringen uns ans Ziel? Welche Medien? Und wie können wir die Eigenverantwortlichkeit der Schüler fördern? Um es also kurz zu machen: Unsere Räume sind offen, das Mobiliar – inklusive Tafel – flexibel, sodass unterschiedliche Lehr- und Lernszenarien möglich werden. Außen und Innen verschwimmen, die Türen der Klassenzimmer stehen offen und der Flur ist Lernraum, damit die Schüler sich auch dort einen bequemen Platz zum Arbeiten suchen können. Hier begegnen sich große und kleine, Schüler mit und ohne Handicap, man nimmt Rücksicht aufeinander.

In puncto Methoden und Medien ...

Ottmar Misoph:  ... ist wichtig, dass der Umgang damit von der ersten Klasse an vermittelt wird. Wenn ich freie Lernzeit erhalte, muss ich ja wissen, wie ich die gestalte. Ich muss wissen, welches Material mir zur Verfügung steht, wo ich es finde und wie ich die vorhandenen Medien nutze, um an mein Ziel zu kommen. Das wird durch unsere "Lernhelfer" noch verstärkt, also wenn Mittelschüler die Grundschüler unterstützen, und fördert gleichzeitig deren Verantwortungs- beziehungsweise Selbstbewusstsein. Übrigens steht analoges Lernen immer gleichberechtigt neben dem digitalen. Wenn jemand das Ende der "Kreide-Zeit" propagiert, dann hat er was nicht verstanden: Es geht darum, alte und neue Methoden sinnvoll in der Schule einzusetzen. Man braucht nicht für jedes Kind ein Tablet. Es reicht, dass digitale Medien ausreichend zur Verfügung stehen und man sich holen kann, was man konkret braucht.

Unsere Schüler wählen selber, was für sie Sinn macht. Wir hatten mit Homeschooling während Corona auch deshalb weniger Probleme, weil wechselnder Methoden- und Medieneinsatz aus dem Schulalltag hinlänglich bekannt ist. Aber andernorts hat das Virus die Strukturmängel der Schule schon brutalst offenbart!

Und die Lehrer?

Ottmar Misoph: Sie werden zu Moderatoren, die unterstützen, anregen, Feedback geben. Unter solcher Obhut dürfen die Schüler in einigen Fächern auch selber bestimmen, wann sie reif für die Proben sind. Ich sage übrigens keinesfalls, dass guter Unterricht nicht ebenso in einer klassischen Lernumgebung möglich wäre. Wir in Thalmässing haben den Weg, den wir gehen, eben als den für uns besten definiert.

Rücksichtnahme, Selbstorganisation, Individualität. Passt Ihr Konzept überhaupt zu einer Leistungsgesellschaft wie der unseren?

Ottmar Misoph: Sehr gut sogar. Weil die Gesellschaft in Zukunft Personal braucht, das eigenverantwortlich handeln kann, das flexibel und kreativ auf Probleme reagiert. Ich zitiere an dieser Stelle gern den Philosophen Precht, der sagt: Unsere Kinder werden morgen mal in Berufen arbeiten, die es heute noch gar nicht gibt. Wollen wir sie da ernsthaft in einer Schule der Vergangenheit ausbilden?

Wenn Sie am bildungspolitischen Schalthebel säßen, in welche Richtung würden Sie ihn bewegen?

Ottmar Misoph: In Richtung einer autonomen Schule. Ich ginge weg vom Klein-Klein, würde die Bildungspläne großzügiger gestalten und Ziele vorgeben, die die Schulen jeweils ganz individuell erreichen dürfen. Auf solche Weise würde neue Kreativität aufspringen, eine neue Dynamik im Land entstehen – da bin ich mir ziemlich sicher. Denn in viel zu vielen Einrichtungen sitzen Starkleister, die derzeit noch von zu viel Bürokratismus und Formalismus ausgebremst werden. Stattdessen stützt das System die schwachen Pädagogen zu sehr. Aber der Auftrag lautet: Schule muss das Gelingen organisieren und nicht das Misslingen dokumentieren.

Sie sind dann mal weg: Am 24. Juli, just zu Ihrem 66. Geburtstag, ist der letzte offizielle Arbeitstag an der Grund- und Mittelschule Thalmässing für Sie gekommen. Kann es denn einen Pensionisten Ottmar Misoph so ganz ohne Schule geben?

Ottmar Misoph: Ja, kann es! Nur eine Sache könnte mich reizen: Als Juror für den Deutschen Schulpreis durch Deutschland zu fahren und mir die besten Schulen der Republik anzuschauen. Das ist sicher interessant ...


Ottmar Misoph wurde am 24. Juli 1954 in Spalt geboren. Sein Großvater war Schulleiter an der örtlichen Volksschule und auch im weiteren Familienkreis findet sich eine Vielzahl an Pädagogen. Misoph machte 1974 sein Abitur am Rother Gymnasium und begann dann ein Studium der Physik, Philosophie und Theologie in Regensburg. Nach zwei Semestern sattelte er auf das Lehramt für Volksschulen um. 1977 begann er sein Referendariat in Spalt. Von dort wechselte er nach Marktheidenfeld in Unterfranken. Anno 1980 legte er seine Zweite Lehramtsprüfung in Zellingen ab. Anschließend unterrichtete er 17 Jahre an der Volksschule Abenberg. 1998 erhielt er die Konrektorenstelle in Thalmässing, wo er 2002 schließlich Rektor wurde. In dieser Funktion vertrat er eine neue Art von Unterricht und Schule. Motto: "Jeder ist anders." Damit öffnete er die Einrichtung auch für Schüler mit Handicap. Man passte die Lernumgebung, die Unterrichtsmittel und -methoden den Bedürfnissen der Schüler an, die in erster Linie eigenständig entscheiden sollen: Wie und wo lerne ich? Für dieses Konzept erhielt die Thalmässinger Grund- und Mittelschule zahlreiche Auszeichnungen. Derzeit läuft die Entscheidung um den Deutschen Schulpreis – Thalmässing ist in der Endrunde. Am 24. Juli verlässt Misoph den Bildungsort – nach 22 Jahren. Sein Nachfolger ist Christian Graf, derzeit Schulleiter an der Grund- und Mittelschule Titting.

 

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